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Erinnerung an die Erinnerung

Sissa Micheli: Mountain Pieces. Reflecting History. Monte Piana, 2020. Durst UV Inkjetdirektdruck auf Acryl, 100x150cm.

Reenactment des Friedens: Sissa Michelis Ausstellung „Mountain Pieces. Reflecting History“ im LUMEN – Museum der Bergfotografie am Kronplatz, erinnert an das Erinnern in einer vom Vergessen ausgebleichten Landschaft.

Von Heinrich Schwazer

Von Bertold Brecht stammt der in der Fotografietheorie häufig zitierte Satz, dass eine „einfache ‚Wiedergabe der Realität‘ wenig über die Realität aussage: „Eine Photographie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute.“ Und weiter schreibt er: „Es ist also tatsächlich etwas aufzubauen, etwas ‚Künstliches‘, ‚Gestelltes‘“, um etwas über die Wirklichkeit zu erfahren. „Es ist also tatsächlich Kunst nötig.“

Ist die Künstlichkeit der Kunst nötig, um in den Hochpustertaler Bergen nicht nur ihre erhabene Spektakelschönheit zu sehen, sondern auch die „Wirklichkeit“ eines über 100 Jahre zurückliegenden Krieges? Der touristische „Eroberungsalpinismus“ hat die langen Schatten der kriegerischen Vergangenheit so gut wie komplett aus den unbegrenzt visuelle Genüsse verheißenden Dolomiten verdrängt. Welcher Instagram-Tourist will mit Vergangenheit belästigt werden, wenn jeder Ausblick einen „instagrammable moment“ verheißt? Was sonst als die Kunst könnte über den gedankenlosen Ästhetizismus der Bergfotografie, die sich jedes Gedächtnisses entledigt hat, hinausführen? Wo sonst als in der Kunst könnte das Gedächtnis Zuflucht finden?

Vergangenheit ist für die Brunecker Fotografin Sissa Micheli nie vergangen und Kunst immer auch und vor allem Gedächtnis-Kunst. Fotografie, ein Medium das gleichsam unwillkürlich Gedächtnisarbeit leistet, setzt sie mit einem gesteigerten Bewusstsein für den Verlust des Gedächtnisses als subversive Kraft des Erinnerns ein. Erinnerung, Medium des Gedächtnisses, setzt Vergangenes mit der Gegenwart in Beziehung – genau damit operiert Micheli. In der Ausstellung „Museum’s Rhapsody“ im Meraner Palais Mamming kombinierte sie nach dem von T. S. Eliot geprägten literarischen Begriff des „objektiven Korrelats“ den von den Faschisten abgeschlagenen Kopf der Statue von Kaiserin Sissi mit Milchquarz und ließ die traurige Kaiserin steinerne Tränen weinen.

Für das LUMEN – Museum of Mountain Photography am Kronplatz entwickelte sie eine Ausstellung, die die Dolomiten als Erinnerungsräume fokussiert. Anders als der Titel „Mountain Pieces. Reflecting History“ es nahelegt, reflektiert die Ausstellung jedoch nicht Geschichte, sondern die Erinnerung an die Geschichte. Genau genommen also die Erinnerung an die verlorene Erinnerung, wie es der französische Historiker Pierre Nora auf den Punkt gebracht hat: „Die Kunst erinnert die Kultur daran, dass sie sich nicht mehr erinnert.“

Der Grund liegt auf der Hand. Micheli arbeitet in und aus einer postmemory-Position heraus. Ihre Gedächtnis-Kunst kommt nach dem Vergessen. Über eigene Erinnerungen verfügt die 1975 geborene Brunecker Künstlerin naturgemäß nicht,  die Schauplätze des Schlachtens betritt sie 100 Jahre danach, ihr steht nur das zeitferne Gedächtnis aus zweiter Hand zur Hand: Bilder und Erzählungen von Historikern und Zeitzeugen, mit deren Sterben die erfahrene Geschichte aus dem sozialen Gedächtnis erlischt und zur toten Geschichte wird.

Woran erinnert Micheli und wie? In erster Linie zeigen ihre Fotografien das Wo der Erinnerung. Mittels einer historischen Berglandkarte aus dem 1. Weltkrieg hat sie sich auf die Suche nach Spuren der blutigen Vergangenheit gemacht:  Stellungsanlagen, Tunnels, Stollen, Schützengräben und historisch aufgeladene Orte wie das Höhlensteintal, wo die Festungswerke Landro und Plätzwies standen, der strategisch bedeutsame Monte Piana, dessen Nordgipfel von den Österreichern, der südliche Hauptgipfel von den Italienern besetzt gewesen war, das Freilichtmuseum Bellum Aquilarum in Sexten, aber auch Bunker des Alpenwalls aus der Zwischenkriegszeit.

Sissa Micheli und Thomas Riess: Out of Silence, Videostill, 2020, Full HDVideo, 16:9, Farbe, Ton, 3:11 Min.

Das Aufsuchen der Kristallisationspunkte der Erinnerung ist jedoch nur der erste Schritt. Entscheidendes Moment ihrer fotografisch-künstlerischen Annäherung an die fremde Geschichte ist, dass sie ihre eigene Position gegenüber dieser Geschichte mitreflektiert, indem sie sich als Bergwandererin, Dokumentaristin und – nicht zuletzt – als Erbin dieser Geschichte mitreflektiert.

Sie ist nie unbeteiligte Spurensucherin, sondern intervenierende Performerin. Fotografieren ist seinem „Wesen nach ein Akt der Nicht-Einmischung“ schreibt Susan Sontag ihrem epochalen Buch über Fotografie. Von solcher Distanzwahrung hält Micheli nichts. Im Gegenteil. Bereit, die Erfahrungen und Erinnerungen der Zeitzeugen zu adoptieren, tritt sie selbst als Protagonistin auf. Am Monte Piana wirft sie Erde in die Luft, als würde sie in ihrer Hand explodieren, in Wehranlagen, Kriegsstollen, Schützengräben und Bunkern zündet sie farbige Rauchkörper, vor dem Sperrwerk Landro lässt sie einen Geist im Silbermantel erscheinen, auf der Plätzwiese schwenkt ein Mann eine zur Flagge umfunktionierte Rettungsdecke, sie bringt Steine zum Fliegen und vor den Drei Zinnen installiert sie Spiegel, die den Blick des Betrachters auf sich selbst zurückwerfen.

Metaphorisierung und Reenactment sind die künstlerischen Mittel, mit denen Micheli die „tote“ Welt der Geschichte in die Gegenwart holt. Am deutlichsten kommt das in dem großartigen Video  „Out of Silence“ zum Ausdruck, das in Zusammenarbeit mit dem Künstler Thomas Riess entstanden ist. Ein schwarz gekleideter Trommler – unverkennbar der Sensenmann – steht, spektakulär durch Flugaufnahmen in Szene gesetzt, vor dem imposantesten und bekanntesten Gebirgsmassiv der Dolomiten, den drei Zinnen, und haut auf eine Trommel ein. Statt der Trommelschläge jedoch hört man dröhnenden Gefechtslärm. Die akustische Vergegenwärtigung der Schrecken des Gebirgskrieges zerreißt die Stille der heilen Bergwelt und rückt die traumatischen Erfahrungen der Soldaten in den Fokus. Das zeitlich Ferne wird mit dem räumlich Nahen in einer kriegerisch konnotierten Aktion zusammengeschlossen.

Das Video ist ein Konzentrat von Michelis Praxis der Performativität und des Re-enactments. Es zeigt, wie  Gedächtnisbildung durch Engführung von eigenen und fremden Erfahrungen funktioniert, es führt leibhaftig vor, dass Erinnerung durch den unvermeidbaren Zeitenabstand, der das Jetzt und das Einst trennt, nicht im eigentlichen Sinne erinnerbar, sondern nur immer wieder als gegenwärtige erlebbar ist.

Sissa Micheli: Mountain Pieces. Reflecting History. Area Three Peaks, 2020. Durst UV Inkjetdirektdruck auf Acryl, 100x150cm.

In dieser Hinsicht sind Michelis fotografische und performative Interventionen als genuin politische zu verstehen. Das Schwenken von Rettungsdecken als Flagge verknüpft die kriegerische Vergangenheit mit der Gegenwart der Flüchtlingsströme und es stellt die Möglichkeit des Einbruchs der kriegerischen Vergangenheit in die Gegenwart in den Raum. Mit der Erinnerung an den  vergangenen  Krieg hält sie zugleich und vor allem eine kritische Einstellung gegenüber heutigen Friedenszeiten wach, die sich möglicherweise als trügerisch herausstellen könnten.  Am historischen Scheitelpunkt des Übergangs der kommunikativen Erinnerung in das kulturelle Gedächtnis durch das Wegsterben der Kriegsgeneration erleben wir ein weltweites Aufflammen von Rechtsbewegungen, von schwindenden demokratischen Abwehrkräften und von massiven Spannungen zwischen einzelnen Ländern. Angesichts eines als selbstverständlich angesehenen Friedens bedarf es eines Reenactment des Friedens.

Nicht zufällig stellt sie der Ausstellung Immanuel Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ aus dem Jahr 1795 als Motto voran: „Der Friedenszustand unter Menschen, die neben einander leben, ist kein Naturstand, der vielmehr ein Zustand des Krieges ist. Das ist wenn gleich nicht immer ein Ausbruch der Feindseligkeiten, doch immerwährende Bedrohung mit denselben. Er muss also gestiftet werden“

Michelis metaphorische, imaginative und performative Verdichtung von Vergangenheit und Gegenwart macht Erinnerungsprozesse selbst zum Akteur ihrer künstlerischen Praxis. Sie verbindet die Spurensuche der Fotografin mit der Direktheit der Performance, ohne auf das Atmosphärische zu verzichten. Was in der Zeit weit und im Bewusstsein noch weiter voneinander entfernt ist – die grandiose Bergwelt und der traumatische Gedächtnisort – denkt und bringt sie in Kipp-Bildern zusammen, in denen Vergessen, Verdrängen und Erinnern verschmelzen. Ihre Arbeit schreibt sich in die seit den 1970er Jahren und in den vergangenen zwei Jahrzehnten verstärkt zu beobachtende Auseinandersetzung der Kunst mit dem hinfälligen kulturellen Gedächtnis ein.

Kunst ist, um auf Brecht zurückzukommen, nicht nur nötig, sondern unverzichtbar, um an die Wirklichkeit des Vergessens und Verdrängens zu erinnern. Sissa Michelis Fotografien sind Erinnerung an das Erinnern in der vom Vergessen ausgebleichten Landschaft der bleichen Berge.

Termin: Sissa Michelis Ausstellung „Mountain Pieces. Reflecting History“ im LUMEN Museum der Bergfotografie, Kronplatz, Bruneck, bleibt bis 11. Oktober zugänglich. www.lumenmuseum.it

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

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