„Phase der Versuchung“
Wie haben die Menschen während des Lockdowns gegessen? Von der Gewichtszunahme zur Entstehung oder Verschärfung einer Essstörung, zwei Expertinnen zu den Essgewohnheiten während der Corona-Krise.
Von Mathilde Galli
Während des Lockdowns waren viele Industrien zum Stillstand gezwungen, andere wiederum liefen auf Hochtouren. Ein Beispiel dafür ist die Mehl- und Hefeindustrie: In den Monaten des Lockdowns stieg die Nachfrage um 170 Prozent. Auf der Suche nach Mehl oder Hefeprodukten standen viele Personen vor leergeräumten Regalen im Supermarkt. „Dies zeigt unter anderem, dass sich viel mehr Menschen in der Küche aufhielten als zuvor“, sagt die Ernährungstherapeutin Verena Breitenberger.
Für die Ernährungstherapeutin ist das ein positiver Aspekt, denn er zeige, dass die Corona-Krise vermehrt Bewusstsein auf das Thema Ernährung gelenkt hat. „Die Menschen haben sich aufmerksam um das Essen gekümmert. Sie wählten regionale Produkte aus und vermieden Fast-Food. Der Küche und dem gemeinsamen Essen mit der Familie wurde mehr Zeit als vorher gewidmet“, freut sich Breitenberger.
Trotzdem war die Quarantäne auch eine Phase der Versuchung. „Man hatte jederzeit die Möglichkeit zu naschen. Aus Langeweile, aus Sorgen oder aus Lust dazu. Das Körpergewicht war nach Ende des Lockdowns ein wichtiges Thema in meinen Beratungen. Viele haben eine Gewichtzunahme beobachtet. Diese sei „lockdown-bedingt“, sagen die meisten“, erzählt die Ernährungstherapeutin.
In dieser schwierigen Phase haben sich allerdings auch die Essgewohnheiten von Personen mit Essstörungen verschärft. Es wird geschätzt, dass in Italien 10 Jugendliche auf 100 an Essstörungen leiden. Aus diesem Grund hat die oberste Gesundheitsbehörde bereits am Anfang der Corona-Krise das Thema rund um die Essstörungen aufgegriffen und zur Achtung gebeten: Fehlende Kontrolle über die Situation, keine Möglichkeit Sport zu betreiben, viele Essenvorräte zuhause, soziale Isolation. Alle diese Situationen stellen für Personen mit Essstörungen ein zunehmendes Risiko zur Verschlimmerung ihres Zustandes dar, so die Gesundheitsbehörde. Die Corona-Krise und insbesondre die Wochen des Lockdowns waren von diesen Umständen geprägt. Grundsätzlich kann emotionaler Druck zu einem Kontrollverlust der eigenen Impulse führen, warnt die Behörde in ihrem Bericht. Sie erklärt, dass dieser Mechanismus, der auch etwa zu Drogenkonsum und -missbrauch führt, Essstörungen bewirken kann, insbesondere in solchen Krisensituationen.
Raffaela Vanzetta, Koordinatorin der Fachstelle für Essstörungen INFES, hat zwar beobachtet, dass es vielen Personen mit Essstörungen während des Lockdowns besser ging als zuvor, denn es habe keinen sozialen Druck gegeben, trotzdem habe sich die gesundheitliche Situation einiger Betroffenen verschlechtert. „Wenn Betroffene das Gefühl der Kontrolllosigkeit haben, dann suchen die Betroffen nach etwas, was ihnen Halt gibt. In diesem Fall haben viele versucht, die Sorgen und das Gefühl der Kontrolllosigkeit mit einem strikten Essensregime wettzumachen“, erklärt Vanzetta. Dies führte dazu, dass die Zeit des Lockdowns ausgenutzt wurde, um eine Diät zu machen. „Leider läuft diese Situation manchmal aus dem Ruder und wandelt sich in eine Essstörung um, oder verschlimmert eine bereits bestehende Essstörung“, so die Koordinatorin des INFES. Die Probleme scheinen sich also polarisiert zu haben: „Man bedenke, dass gleichzeitig ein Viertel der Südtiroler im Gewicht zugenommen hat“, sagt Vanzetta.
Essstörungen betreffen hauptsächlich Jugendliche, vor allem im Alter von 15-18 Jahren, doch in der Phase des Lockdowns machte Vanzetta eine Beobachtung: Es wandten sich vermehrt jüngere Betroffene an die Fachstelle für Essstörungen. „Elf- oder Zwölfjährige sind eigentlich nicht die Regel. Aber es hat beispielsweise auch eine Kinderärztin beobachtet, dass rund 50 Prozent der Kinder nach dem Lockdown leichte Formen von psychischen Störungen hatte. Es ist also nicht abwegig zu denken, dass sich in dieser Phase Essstörungen auch bei Jüngeren gezeigt haben“, meint Vanzetta.
Die Fachstelle für Essstörungen habe nach Ende des Lockdowns und mit Anfang Juni vermehrt Beratungen zu Essstörungen gegeben, erklärt Raffaela Vanzetta. Ob dies darauf zurückzuführen sei, dass es während des Lockdowns schwieriger war zu Beratungen zu kommen oder ob sich die Essstörungen in dieser Zeit tatsächlich vermehrt haben, kann Vanzetta nicht sagen. Allerdings bot die Fachstelle für Essstörungen auch während des Lockdowns weiterhin Beratungen an. „Einige Betroffene erzählten aber auch, dass es zuhause nicht genug Privatsphäre gäbe, um ein Beratungsgespräch über Skype zu führen. Auch diese Situationen der Enge und Beschränktheit zuhause können schwierige Gesundheitssituationen zuspitzen“, sagt Raffaela Vanzetta.
Ähnliche Artikel
Kommentar abgeben
Du musst dich EINLOGGEN um einen Kommentar abzugeben.