„Er fehlt uns jeden Tag“
Die TAGESZEITUNG hat die Lebens- und Leidensgeschichten von fünf Südtirolern dokumentiert, die an Corona verstorben sind.
von Eva Maria Gapp
In Italien sind bisher mehr als 35.000 Menschen an Corona gestorben. 292 Menschen starben in Südtirol.
Für viele Menschen sind die Corona-Toten nur Nummern.
Die TAGESZEITUNG ist der Frage nachgegangen:
Doch wer waren sie? Was haben diese Menschen erlebt? Worüber haben sie gelacht? Worüber geweint?
Im Folgenden Teil 2 der Serie (Teil 1 wurde am Samstag auf veröffentlicht)
„Ein Orzt mit Herz“
Josef Leitner, 69, Freienfeld
Marlene Leitner, Josefs Ehefrau erzählt:
Mein Mann war mit ganzem Herzen Gemeindearzt in Freienfeld. Für ihn war es keine Arbeit, sondern vielmehr eine Berufung. Schon früh wusste er, dass er Menschen helfen will.
Auch die Patienten haben ihn sehr wertgeschätzt. Sie haben immer gesagt: „Des ischein Orztmit Herz, an Orzt, der menschlich isch“. Er hat sich einfach für die Menschen Zeit genommen. Er wusste sogar von den meisten Patienten den Geburtstag und den Namenstag. Für ihn war das wichtig. Josef war ein sehr besonderer Mensch und hat sich auch nie in den Vordergrund gestellt.
Wir haben eine sehr liebevolle und wertschätzende Ehe geführt und haben in guten und schlechten Zeiten zusammengehalten. Er ist immer für die Familie und besonders für mich eingestanden, war für uns daheim der Ruhepol und ein wunderbarer Zuhörer.
Was die Gesundheit anbelangt, hatte es mein Mann aber nicht leicht. Er hatte eine Erkrankung genetischer Natur, die dazu geführt hat, dass er mit der Zeit auf einen Rollstuhl angewiesen war und gepflegt werden musste.
Als dann Corona kam änderte sich alles. Ich steckte mich mit dem Virus an und musste in häusliche Quarantäne, und damit auch meine Kinder und mein Mann. Jeden Tag haben wir aufgepasst und uns so gut es nur ging, geschützt. Wir haben getrennte Toiletten benutzt, getrennt gegessen. Dennoch hat sich mein Mann mit dem Virus angesteckt.
Im Gegensatz zu mir hatte er aber keine Symptome. Nach einer Woche verschlechterte sich aber sein Zustand. Er musste sich erbrechen und kam ins Krankenhaus. Er hätte intubiert werden müssen, doch mein Mann hat eine Patientenverfügung gemacht, in der vermerkt war, dass keine lebensverlängernden Maßnahmen durchgeführt werden dürfen. So konnten die Ärzte nichts mehr für ihn machen. Am 12. April ist er dann gestorben.
Das war sehr schlimm, vor allem auch für die Kinder, die sich nicht mehr von ihrem Papi verabschieden konnten. Er fehlt uns jeden Tag!
Die Kämpferin
Luise Schmuck, 87, Seis
Marialuise Goller, Luises Tochter erzählt:
Meine Mama war eine starke Frau. Sie hat sich durch nichts aus der Bahn werfen lassen. Als sie krank wurde und sie sich schweren Operationen unterziehen musste, hat sie nicht den Kopf in den Sand gesteckt. Nein, sie hat sich ins Leben zurückgekämpft. Selbst nach dem Schlaganfall vor zwei Jahren. Das war wirklich bemerkenswert. Meine Mama hatte einen eisernen Willen.
Uns sechs Kinder hat sie mit sehr viel Liebe, aber auch Strenge aufgezogen. Sie hat versucht aus jedem von uns einen „ordentlichen“ Menschen zu machen. Mama ist sehr behütet aufgewachsen. Als der Krieg begann, war sie sechs Jahre alt. Sie konnte sich noch gut erinnern, wie ihre Brüder zum Krieg eingezogen wurden und an die Front kamen, und ihnen dann später mitgeteilt wurde, dass ein Bruder als vermisst galt. Das war für alle sehr schmerzhaft. Nach außen hin wurde aber immer Stärke gezeigt.
Als der Krieg fertig war, hat sie eine Ausbildung zur Friseurin gemacht. Dann geheiratet und sofort schwanger geworden. Meine Mama und mein Papa waren ein Vorzeigeehepaar. Jeder, der sie gesehen hat, wusste, dass das Liebe ist. Das war ungewöhnlich für die damalige Zeit, da gab es nicht so viele Liebeshochzeiten, aber bei ihnen war es anders. Sie haben sich einfach geliebt. Als dann Papa aber gestorben ist, war das sehr schwer für sie. Sie hat sehr um ihn getrauert. Bis zuletzt hat sie ihn liebevoll gepflegt und ist ihm nicht von der Seite gewichen. Das war vor zwanzig Jahren.
Die letzten Jahre ihres Lebens hat sie dann im Seniorenheim verbracht. Lange Zeit ging es ihr dort gut, versuchte immer das Beste daraus zu machen. Doch dann kam Corona. Von einem Tag auf den anderen bekam sie hohes Fieber, es ging ihr immer schlechter. Sie wusste wohl, dass sie diesen Kampf nicht mehr gewinnen kann. Dass es Zeit ist zu gehen. Am Sterbebett durfte ich ihr die Hand halten. Sie konnte nicht mehr reden. Ich sagte ihr, wie sehr ich sie liebte.
Da sich die Angehörigen von ihren Lieben nicht verabschieden konnten, fiel es vielen unglaublich schwer, über die Verstorbenen zu sprechen. Corona hat tiefe Wunden hinterlassen. Einige wollten keine Interviews geben, andere freuten sich. Sie sahen es als Gelegenheit, den Verstorbenen zu erinnern – und damit selbst ein Stückweit Abschied zu nehmen.
Ähnliche Artikel
Kommentar abgeben
Du musst dich EINLOGGEN um einen Kommentar abzugeben.