Die Menschen hinter den Zahlen
292 Menschen sind in Südtirol bisher an Corona gestorben. Die TAGESZEITUNG hat die Lebens- und Leidensgeschichten von fünf Südtiroler Corona-Toten dokumentiert.
von Eva Maria Gapp
In Italien sind bisher mehr als 35.000 Menschen an Corona gestorben. 292 Menschen starben in Südtirol.
Doch wer waren sie? Was haben diese Menschen erlebt? Worüber haben sie gelacht? Worüber geweint?
Jeder einzelne von ihnen hatte Gefühle und Sehnsüchte, Hoffnungen und Erwartungen, Erinnerungen und Träume. Aber auch Menschen, die sie liebten, denen sie etwas bedeutet haben. Menschen, die für sie alles getan hätten. Hinter jedem Covid-Toten steckte eine Geschichte. Für die breite Öffentlichkeit waren sie aber nur Zahlen.
Die TAGESZEITUNG hat die Lebens- und Leidensgeschichten von fünf Südtiroler Corona-Toten dokumentiert. Der Mensch und nicht die Zahl soll im Vordergrund stehen.
Der Rebell
Otto Hartmann, 89, Bozen
Ingrid Hartmann, Ottos Tochter erzählt:
Ich werde nie vergessen, wie mein Tata mit all seinen Klamotten in den Eggentaler Bach gesprungen ist. Einfach so. Spaßeshalber (lacht). Oder wie er auf Festen auf Tischen tanzte und sang. Er hat sich, obwohl sein Leben sicherlich nicht immer leicht gewesen war, seinen Humor bewahrt.
In jungen Jahren war er ein Draufgänger. Als Halbwüchsiger soll er während der Bombardierung Münchens, zum Leidwesen meiner Oma, anstatt in den Luftschutzkeller, auf die Dächer gestiegen sein, um das Explodieren der Bomben zu sehen.
Er war nie ein Angepasster (lacht). Im Grunde war mein Tata immer ein Rebell – das war wohl seinem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn geschuldet. Er war kein Ja-Sager. Vor allem mit den Obrigkeiten, den „Hohen Tieren“ wie er sie nannte, und dem Klerus hatte er seine Schwierigkeiten. Als Kind hat mir das immer gefallen. Ich habe zu ihm aufgeschaut. Auch weil er ein so großes Herz hatte – „a Herz wia a Bergwerk“. Er hat vielen Menschen geholfen. Ob jemand Arbeit suchte oder eine Wohnung – Otto hat alles in Bewegung gesetzt, um zu helfen.
Mein Tata ist für Hunger und Durst Auto gefahren. Deshalb hat er sich wohl auch für den Beruf des Chauffeurs entschieden. Er war jahrelang Chauffeur von Landeshauptmann Luis Durnwalder. Mit 65 ist er in den Ruhestand getreten, den er genossen hat.
Die letzten Jahre seines Lebens hat er zu seiner inneren Zufriedenheit gefunden – das konnte man deutlich spüren. Oft sagte er: „I hon a schians Lebn ghobt“.
Kurz bevor sich mein Tata mit Corona infiziert hat, haben wir noch telefoniert. Er sagte zu mir: „Wenn das alles vorbei ist, gehen wir alle gemeinsam etwas Gutes essen. Ich freue mich schon darauf.“ Dann hat er hohes Fieber bekommen und war nicht mehr ansprechbar. Acht Tage später ist er gestorben. Wir konnten ihn nicht begleiten. Er ist einfach verschwunden. Das schmerzt.
„Unser Nonno“
Flavio Gobbo, 85, Seiser Alm
Silvia Gobbo, Flavios Tochter erzählt:
Ich hätte mir so gewünscht, mich von ihm zu verabschieden, ihm seine Hand zu halten und für ihn da zu sein. Vielleicht auch weil meine Mama so früh gestorben ist. Ich war damals 17 Jahre alt, mein Tata oder wie wir ihn immer genannt haben „Nonno Flavio“ 50. Von da an habe ich mir vorgenommen, wenn irgendwann mal etwas mit ihm sein sollte, möchte ich bis zuletzt dabei sein.
Leider konnte ich das nicht. Ich war zu dieser Zeit selbst in Quarantäne, mein Vater im Seniorenheim. Am 30. März bekam ich dann den Anruf, dass er es nicht geschafft hat. Das Virus war zu stark für ihn. Das war eine schlimme Zeit.
„Nonno Flavio“ wird mir immer als geselliger Mann in Erinnerung bleiben, der viel zu erzählen gehabt hat und das Singen liebte. Italienische Lieder. Wenn man irgendwo jemanden summen oder pfeifen gehört hat, dann war es unser „Nonno Flavio“.
Vergessen werde ich auch sicher nicht, wie er mich in der Jugendzeit immer angefeuert hat, wenn ich Skirennen gefahren bin. Eine Zeitlang war ich sehr sportlich unterwegs, war am Sonntag immer auf der Piste.
Für mich und meinen Bruder war er immer da. Auch wenn er viel gearbeitet hat – er war Gastwirt – hat er sich für uns stets Zeit genommen. Es war ihm wichtig, dass es uns an nichts fehlt. Er selbst hatte eine eher schwierige Kindheit.
Er ist in ärmlichen Verhältnissen in einer Großfamilie mit sieben Kindern aufgewachsen und musste schon früh die Familie verlassen, um für sie zu sorgen. Auf der Seiser Alm, wo er mit jungen Jahren gearbeitet hat, lernte er dann aber seine ganz große Liebe kennen. Die Anna, meine Mama. Ganz so einfach war das damals mit ihrer Liebe aber nicht. Mein Vater ist Italiener, meine Mama Südtirolerin. Das wurde nicht gern gesehen. Sie haben sich davon aber nicht auseinanderbringen lassen, sie haben sich durchgekämpft.
„Hand in Hand durchs Leben“
Pia Oberacher, 89, Eppan
Christine Oberacher, Pias Tochter erzählt:
Meine Mama ist eine gebürtige Nonsbergerin. Sie ist in Ruffré aufgewachsen. Es war eine einfache Familie. Der Papa war Maurer, die Mama ist immer nach Kaltern zu Fuß gegangen, um Ziegenkäse, den sie selbst hergestellt hat, zu verkaufen. Sicherlich war das keine einfache Zeit, es galt acht Kinder zu versorgen. Trotzdem waren sie glücklich.
Meine Mama war die Jüngste von allen. Als sie auf die Welt kam, war sie bereits Tante (lacht). Meine Oma hat sie erst mit etwa 45 bekommen.
Während der Volksschulzeit musste meine Mama eine Zeitlang zu ihren Bruder nach Kaltern ziehen, weil sie daheim Probleme hatten. Als junges Mädchen musste sie dann in den Dienst, also arbeiten gehen. Eine Zeitlang half sie in einem Lebensmittelgeschäft aus. Später ist meine Mama dann nach Girlan gezogen. Dort war sie bei einer Familie als Haushaltshilfe angestellt. Sie hat gekocht, geputzt und auf die Kinder aufgepasst.
Als sie dann eines Tages zur Post ging, um einen Brief abzuholen, hat sie meinen Papi, den Alfons kennengelernt. Es war Liebe auf den ersten Blick. Bereits nach sechs Monaten haben sie geheiratet. Mama war da 18 Jahre alt. Sie waren ein Herz und eine Seele.
Wenn ich an die beiden denke, kommt mir immer dieses Bild im Kopf, wie sie immer Hand in Hand spazieren gegangen sind. Selbst die Menschen, die sie kannten, erinnern sich noch daran. Da ist einem sofort warm ums Herz geworden, wenn man sie gesehen hat. Man dachte sich: Das muss Liebe sein. Das war einfach entzückend. Sie waren 64 Jahre verheiratet. Zum 50. Jahrestag hat mein Papi ihr eine Reise auf die Malediven geschenkt. Das hat sie unglaublich gefreut. Sie waren auch sonst sehr viel unterwegs. Sie liebten es zu reisen. Sie machten Urlaub in Sardinien, Sizilien, England, Frankreich und Kroatien.
Insgesamt hatten die beiden vier Kinder, sieben Enkelkinder und neun Urenkel, die sie sehr geliebt haben. Sie haben alles für die Kinder getan. Vor allem meine Mama, die immer so sanftmütig war. Schreien oder Schimpfen gab es bei ihr nicht. Sie hat sich auch nie beklagt, einfach alles so hingenommen. Was sie sich aber bis zuletzt nicht nehmen lassen wollte, war das „Zigarettl“. Das musste sein. Der Opa war der gleiche (lacht).
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Kommentare (24)
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hallihallo
jährlich sterben in südtirol über 3000 personen. alle haben ein geschichte hinter sich. meine mutter ist im januar mit 86 jahren gestortben , auch sie hat eine geschichte hinter sich.
hubertt
ermelin, selbst ignorant, oder?