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„Zweiter Lockdown wäre untragbar“

Patrick Franzoni

Warum der stellvertretende Covid-19-Einsatzleiter, Patrick Franzoni, einen zweiten Lockdown im Winter ausschließt. Warum er zur Grippeimpfung rät. Und: Warum ihn die Jugendlichen Sorgen bereiten.

TAGESZEITUNG Online: Herr Franzoni, in Südtirol haben wir derzeit im Schnitt acht Neuinfektionen pro Tag. Sind das die Ausläufer der ersten Welle oder bereits die Vorläufer der zweiten?

Patrick Franzoni: Mehr als von Vor- oder Ausläufern würde ich von zwei verschiedenen Problemen sprechen. In 70 Prozent der Fälle haben wir es mit importierten Infektionen zu tun, in 30 Prozent der Fälle mit Leuten, die in Südtirol wohnen und sich bei uns infiziert haben. Das  Virus ist noch unter uns. Auf der anderen Seiten müssen wir sagen: Wir sind besser dran als Spanien, Frankreich, Belgien oder die Schweiz. Ich sage das auch als gebürtiger Schweizer …

Wie beurteilen Sie die Lage?

Die wichtigste Zahl ist für mich jene der kumulierten Ansteckungen, also die Ansteckungen auf 100.000 Leute kumuliert auf 14 Tage. Da liegen wir in Italien mit sechs Ansteckungen noch ganz gut, Südtirol ist ein bisschen drüber, aber das liegt auch daran, dass wir extrem viel testen. Die Schweiz hat einen Wert von 20, Belgien hat einen Wert von über 60.

In Österreich sind die Fallzahlen seit Tagen dreistellig, in Deutschland neuerdings wieder vierstellig. Auch um uns herum steigen die Neuinfektionen. Geben die Zahlen Anlass zur Besorgnis?

Sicher. Weil man sieht ja auch, dass insbesondere die Neuinfektionen bei Jugendlichen steigen. 70 Prozent der Neuinfizierten sind Jugendliche, wir haben jetzt genau das umgekehrte Verhältnis als im März …

Die Ursache?

Es ist leider so, dass die Jugendlichen nicht so aufpassen und sich immer noch die Hand geben oder umarmen.

Das Durchschnittsalter der Neuinfizierten ist auf 26 Jahre gesunken …

Ja, und es geht weiter runter. Nehmen Sie nur den Fall der 200 Maturanten aus Brescia, von denen sich 30 in Kroatien infiziert haben. Das Tragische ist, dass diese Jugendlichen ihre Eltern und Großeltern in Gefahr bringen.

Das Gesundheitsministerium hat für Südtirol eine Reproduktionszahl von 1,43 errechnet, damit liegen wird hinter Sizilien auf Rang 2. Die Lombardei hat 1,04. Was bedeutet dies?

Die Zahl ist sehr aussagekräftig, und der Wert von 1,43 ist eine Zahl, über die man sich Gedanken machen sollte.

Inwiefern?

Ich werde nicht müde, an die Eigenverantwortung von Jung und Alt zu appellieren. Unser Sanitätsbetrieb hat sich extrem auf Corona vorbereitet, aber das heißt nicht, dass die Ressourcen unendlich sind. Wir können nicht alles auffangen, daher müssen wir versuchen, die Infektionszahlen so niedrig wie möglich zu halten. Das heißt: In geschlossenen Räumen Masken tragen! Ich bin gerade hier im Ahrntal und sehe, dass die Touristen in den engen Gassen den Meter-Abstand nicht einhalten können. Ich trage in solchen Situationen immer Maske!

Was ist an der These dran, dass das Virus inzwischen weniger aggressiv sei und deswegen bei weniger Patienten einen schweren Verlauf auslöst?

Das Virus wird regelmäßig genetisch getestet, um zu schauen, ob es mutiert. Das Virus, das derzeit zirkuliert, ist dasselbe vom März.

Die zweite Welle wird kommen, aber – so sagten Politiker und Mediziner – es werde keinen Lockdown mehr geben, wie wir ihn im Frühjahr erlebt haben. Welches Szenario erwarten Sie?

Patrick Franzoni

Ich als Arzt sage: Wir sind viel besser vorbereitet. Ich hoffe auch stark auf die Eigenverantwortung der Menschen. Denn ein zweiter Lockdown ist untragbar für die Wirtschaft, er würde zu einer ökonomischen Katastrophe führen. Aus diesem Grund werden wir Mediziner alles tun, um so etwas zu vermeiden. Was sein könnte ist, dass es lokale Lockdowns geben wird, das heißt, dass wir ganz Viertel, Dörfer oder auch ein Tal schließen müssen.

Uns allen sind die Horrorbilder aus Bergamo noch präsent. Kann man davon ausgehen, dass es nicht mehr zu Engpässen in der intensivmedizinischen Betreuung kommen wird, weil man die Krankheit jetzt medizinisch besser im Griff hat?

Es kommt immer auf die Fallzahlen an. Die Intensivpatienten sind nur die Spitze des Eisbergs. 80 Prozent der Infizierten haben keine oder kaum Symptome, 20 Prozent der Infizierten landen im Krankenhaus. Und von diesen 20 Prozent müssen 3 bis 5 Prozent intensivmedizinisch betreut werden. Das heißt: Desto breiter die Pyramide unten, desto höher ist die Zahl der Intensivpatienten.

Zuletzt ist bekanntgeworden, dass das Wissenschaftliche Komitee, das die Regierung in Sachen Corona berät, im März nur einen Lockdown für drei Regionen und nicht für das gesamte Staatsgebiet empfohlen hat. Hat die Regierung überreagiert?

Absolut nicht! Die Maßnahmen sind der Grund dafür, dass Italien im Moment die niedrigsten kumulierte Ansteckungszahl hat. Wir sind die Besten in Europa!

Schon bald wird in Südtirol die Diskussion losgehen: Soll man sich gegen die Grippe impfen lassen, damit bei einer eventuell auftretenden Symptomatik besser zwischen einer normalen Grippe und Corona unterscheiden kann?

Ich persönlich habe mich immer geimpft, seit ich mit dem Medizinstudium angefangen habe. Es mag auch erholend sein, einmal fünf Tage lang mit Grippe im Bett zu liegen, aber wenn im Sanitätsbereich das Personal flachliegt, dann haben wir ein Problem. In Zeiten von Corona wird die Grippeimpfung noch wichtiger, weil wir dann schon mal eine Ursache weniger zu kontrollieren haben. Aber Sie haben recht: Die Frage, wie man zwischen einer normalen Grippe und einer Corona-Infektion unterscheiden kann, wird eines der Hauptthemen im Herbst sein. Wir stehen vor einer riesigen Herausforderung.

Interview: Artur Oberhofer

Foto(s): © 123RF.com und/oder/mit © Archiv Die Neue Südtiroler Tageszeitung GmbH (sofern kein Hinweis vorhanden)

Kommentare (12)

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  • waldhexe

    Eine zuverlässigere Aussage wäre,wenn man die Prozente der neuinfizierten veröffentlichen würde.
    Es ist sinnlos die Tests von 400 auf 1800 hochzufahren und dann gross zu verkünden“Immer mehr infizerte in Südtirol“
    Fazit,vom 15.03.2020 bis heute liegt der Prozentanteil der Positivgetesten bei ca.0,4%.
    Hochgrechnet auf die gesamte Bevölkerung müssten im ganzen Land ca. 2000 Infizierte herumlaufen,abzüglich der falsch positiv getesteten,der Menschen in den Altersheimen,den Kleinkindern und älteren Leute die zuhause sind und sich nicht in der öffentlichkeit bewegen können.
    Wegen eine gerigen Anzahl von Menschen,die den Virus anscheinend in sich haben,tragen eine halbe Million Menschen Masken.
    Merkt denn hier niemand nichts?

    • sorgenfrei

      Von diesen 2000 infizierten waren zu hochzeiten 70 auf den intensivstationen, 10% sind verstorben…. hieße, bei einer größeren krankheit oder einem unfall könnte ich nicht behandelt werden, weil alle betten belegt wären… dies ist das problem, ob man an das virus glaubt oder, diese tatsache können auch verschwörungstheoretiker nicht verleugnen….

      • waldhexe

        @sorgenfrei Immer wenn Argumente ausgehen wir das Wort Verschörungstheoretiker gebracht.Kein Mensch leugnet die Präsenz dieses Viruses,aber viele Menschen,es werden immer mehr,sind mit dem was man aus diesem Virus macht nicht einverstanden.
        Man kann nicht monatelang Betten in Krankenhäusern reservieren und dann muss man feststellen,dass sie nicht benötigt werden.Hat jemand einmal nachgedacht welche Kolateralschäden durch diese Entscheidung entstanden sind? Wieviele Menschen hätten eine dringende Behandlung notwendig gehabt? Und sie nicht bekommen haben und desshalb sterben mussten? Fragen über Fragen,die sich die Politik stellen sollte.
        Sogenannte Experten beschränken sich nur mehr mit der Maskenpflicht,
        denn besseres fällt ihnen nicht mehr ein.Das einzige auf was man sich verlassen kann ist unser Immunsystem,das seit Jahrtausenden mit grossen Erfolg unsere Existenz garantiert hat.

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