„Bären sind sehr friedfertig“
Der in Kanada lebende Bärenexperte Reno Sommerhalder kritisiert, wie hierzulande mit Bären umgegangen wird. Und empfiehlt eine „Waffe“ für Notfälle: Pfefferspray.
Tageszeitung: Herr Sommerhalder, seit mehr als 30 Jahren leben Sie nun schon unter Bären. Was fasziniert Sie so an diesen Wildtieren?
Reno Sommerhalder: Bären haben nicht nur eine unglaubliche Kraft, sie sind auch intelligent und sanftmütig. Doch es geht mir nicht spezifisch um Bären, sondern darum, was sie symbolisieren. Der Bär symbolisiert für mich in erster Linie ein intaktes Ökosystem. Überleben Bären, überleben viele weitere Pflanzen- und Tierarten.
Ich finde aber auch immer wieder faszinierend, wie tolerant diese Tiere gegenüber uns Menschen sind. Ihre Toleranz geht sogar so weit, dass sich viele europäische Braunbären, wie etwa im Trentino, zu nachtaktiven Tieren gewandelt haben – nur um den Menschen aus dem Weg gehen zu können. Eigentlich sind diese Bären von Natur aus tagaktiv. Und man darf auch nicht vergessen, unter welch schwierigen Umständen sie das tun. Man muss wissen, dass Grizzly- und Braunbären im Schnitt drei bis sechs Monate einen Winterschlaf halten. Wenn sie dann im Frühling aufwachen, gibt es noch nicht viel Futter. Während der Winterruhe haben sie aber viel Fett verloren. Um wieder an Körpergewicht zuzunehmen, haben sie nur drei bis vier Monate Zeit. Die Bären kommen dann also in eine Art Fresssucht, wo sie bis zu 18 Stunden pro Tag nonstop fressen, weil sie realisieren, wenn sie diese Fettreserven nicht ansetzen, werden sie möglicherweise den Winter nicht überleben. Dieses Leben schränkt sie also extrem ein. Trotzdem nehmen sie das alles in Kauf, nur um uns nicht in die Quere zu kommen.
Wie sind Sie überhaupt dazu gekommen, unter Bären zu leben und sie zu erforschen?
Das war in meinem ersten Jahr in Kanada, ich war 19 Jahre alt und noch sehr naiv. Ich hatte damals keine Ahnung von Bären. Ich habe in der Wildnis gezeltet, und nachts läutete plötzlich mein Kuhglöckchen an der Zeltdecke. Auf einmal schaute ich in das Gesicht eines Bären. Er hatte mit einem Prankenhieb die Seitenwand aufgerissen. Er war auf der Suche nach Futter. Wir haben uns gegenseitig angestarrt, dann ging der Bär davon. Ich hatte den Fehler gemacht, Essen im Zelt zu lagern statt draußen. Danach habe ich die ganze Nacht nicht mehr geschlafen. Von diesem Moment an habe ich mich aber den Bären verschrieben.
Andere wären sicherlich weggelaufen oder hätten sofort alles abgebrochen, warum Sie nicht?
Diese Begegnung hat mich einfach so beeindruckt und fasziniert, dass ich mehr wissen wollte. Dass der Bär mich nicht angegriffen hat, hat mich neugierig gemacht. Ich wollte wissen, was für Wesen diese Bären sind. Das hat mich nicht mehr losgelassen. Heute weiß ich, sie sind sehr friedfertige Tiere. Die Menschen haben aber leider ein falsches Bild von Bären. Bären sind keine Feinde des Menschen und auch keine Bestien. Ich bin in den letzten 30 Jahren mehr als 15.000 Bären begegnet. Die Bestie, über die oft berichtet wird, habe ich dabei nie getroffen.
Warum wurden Sie dann zum Feindbild?
Sie wurden erst zum Feindbild, als wir uns vom Jäger und Sammler zu Bauern gewandelt haben. Weil sie einfach zu haben waren, haben gewisse Bären angefangen, Nutztiere anzugreifen – und wollten damit dasselbe wie wir. Dann haben aber auch Hollywoodfilme und schlechte Presseberichte dazu beigetragen, dass der Bär ein so schlechtes Image hat. In den meisten Fällen ist aber fehlerhaftes menschliches Verhalten für Konfliktsituationen verantwortlich. Hinzu kommt: Braunbären sind größtenteils Vegetarier. Sie ernähren sich vorwiegend von Beeren und Fischen, in Ausnahmefällen von Wildtieren.
Es liegt also nicht in ihrer Natur, Menschen anzugreifen…
Nein, denn sonst wäre ich schon lange nicht mehr am Leben. Ich hatte – wie bereits gesagt- viele tausende Begegnungen mit Grizzly- und Braunbären auf der ganzen Welt. In Alaska, in Kanada, in Russland und in Europa. Zum Teil dauerten diese Begegnungen über Stunden, Tage oder sogar Wochen an. Die Bären sind dabei sehr nahe bei mir. Wenn die Bären wirklich eine Angriffslust gegenüber Menschen hätten, dann kämen jeden Tag Leute um. Das passiert aber nicht. Da ist die Gefahr, auf einem Waldspaziergang von einem Baum erschlagen oder von einer Kuh attackiert zu werden, hundert Mal höher. Die Gefahr, die von einem Bären ausgeht, ist verschwindend klein.
Wurden Sie schon einmal von einem Bären angegriffen?
Nein, und ich habe wirklich die Grenzen ausgereizt. Vor allem als ich jünger war, habe ich einiges riskiert, habe Fehler gemacht, Bären überrascht, um zu schauen, wie sie sich verhalten. Das würde ich heute natürlich nicht mehr tun. Es ist aber nie zu einem Zwischenfall gekommen.
In welchen Situationen greift ein Bär eigentlich an?
Bei Braunbären sind das meist Situationen, wo eine Bärin oder ein einzelner Bär etwas versucht zu verteidigen. Grundsätzlich werden drei Situationen unterschieden: Ganz häufig handelt es sich um eine Mutter mit kleinen Neugeborenen. Da kann es in seltenen Fällen passieren, dass sie, um ihre Jungen zu schützen, aggressiv wird. Ein weiterer Grund ist, wenn ein Bär einen toten Hirsch, also eine wichtige Nahrungsquelle verteidigen möchte. Da kann er nicht wegrennen. Der dritte Grund ist, wenn man einen Bären an einem felsigen Gelände überrascht. Wenn der Bär keinen Weg sieht, um zu flüchten, kann es sein, dass er sich verteidigen will. Aber das sind alles Fälle von Verteidigung. Das heißt: Wenn der Bär merkt, dass wir keine Gefahr für dasjenige darstellen, was der Bär gerade verteidigt, lässt er einem in Ruhe. Das Problem an der ganzen Sache ist aber, dass der überwiegende Teil der Menschen gar nicht weiß, wie sie sich gegenüber einem Bären verhalten soll. Ein großes Problem sind dabei die sozialen Netzwerke, wo man sich mit geposteten Videos und Fotos als Held feiern lassen will.
Können Sie uns dann aufklären? Was sollte man tun, wenn man auf einen Bären trifft?
Ganz generell kann gesagt werden: Wenn man einen Bären überrascht und dieser einem realisiert, sollte man stehen bleiben und sich bemerkbar machen. Das heißt, zum Beispiel mit kräftiger Stimme „Hey Bär“ sagen. Dann sollte man mit dem Bären sprechen, ohne Panik zu zeigen. Meist entfernt sich der Bär. Wenn nicht, dann läuft man langsam und ohne das Gesicht vom Tier abzuwenden rückwärts. Wenn der Bär wirklich eine Scheinattacke macht, also auf den Bären zuläuft, bleibt man stehen. Im Normalfall bleibt der Bär einige Meter vor dem Menschen stehen und rennt weg. Kommt es jedoch zum Körperkontakt, sollte man sich fallen lassen, die Hände hinter den Kopf legen und die Knie anziehen.
Was man in Trentino auch anfangen sollte, darüber zu diskutieren, ist der Einsatz von Pfeffersprays, um sich vor einem potenziellen Bärenangriff verteidigen zu können. Dadurch würden sich die Menschen auch sicherer fühlen. Hier bei uns in Kanada hat jeder drei bis vier solcher Pfeffersprays zu Hause. Wenn wir rausgehen haben wir immer einen dabei. Dabei ist es aber sehr wichtig, dass man weiß, in welchen Situationen man ihn einsetzt. Nur in wirklichen Notfällen, zum Beispiel während einer Scheinattacke. Einfach aus einer Distanz von ca. fünf bis 10 Metern auf den Bären zielen.
Interview: Eva Maria Gapp
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Kommentare (12)
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papaf
Schon eine ersten Fernet intus?
paul1
Will dieser selbsternannte Bärenexerte, Kanada – mit ca. 38Millionen Einwohner und einer Fläche von ca. 10Millionen Quatratkilometer mit Südtirol vergleichen???
manfred
Zu dieser, bezogen auf unsere Siedlungsdichte und viel zu große Bärenpopulation, realitätsfremde Träumerei erübrigt sich wohl jede Stellungnahme…zum Pfefferspray jedoch sei nur soviel angemerkt, dass gegenüber Bären auf sichere Distanz wirksame Sprays, wie sie zum z.B. in der Schweiz erhältlich sind, in Italien lt. geltendem Waffengesetz immer noch verboten sind.
noando
man könnte ja die fungaioli beauftragen die gesamtsituation in südtirol zu erfassen, dafür dürfen sie jeden tag sammeln.