„Niemand weiß, wie viele es Infizierte gibt“
Julia Lantschner lebt seit vielen Jahren in Tansania. Die 30-Jährige erzählt, wie sie die Situation vor Ort erlebt.
von Eva Maria Gapp
Seit vielen Jahren ist Tansania die Heimat von Julia Lantnschner. Die Steineggerin hat vor mehr als fünf Jahren Südtirol verlassen, um jungen Frauen in schwierigen Lebenssituationen zu helfen.
Die Tageszeitung hat vor mehr als einem halben Jahr mit der 30-Jährigen gesprochen. Vom Coronavirus war damals keine Rede. „Niemand hätte sich gedacht, dass es jemals soweit kommen wird“, sagt sie heute. Auch der afrikanische Kontinent wird vom Coronavirus heimgesucht. Jobs brechen weg, Schulen und Universitäten sind zu.
Wir erreichen Julia Lantschner um 10 Uhr morgens in Kigamboni, einem ländlichen Stadtteil von Dar es Salaam. Mit mehr als fünf Millionen Einwohnern ist sie die größte Stadt Tansanias.
„Mitte März wurden bei uns die ersten Coronavirus-Fälle gemeldet. Es wurden dann alle Schulen geschlossen und auch viele Restaurants haben zugemacht. Es gab aber keinen Lockdown in dem Sinne, dass die Menschen nicht mehr rausgehen und arbeiten durften. Das wäre in einem Land wie Tansania nicht möglich gewesen. Das wäre in eine Katastrophe gemündet“, erzählt sie. Denn Lockdowns sind Maßnahmen, die nur funktionieren, wo es sich die Menschen leisten können, zu Hause zu bleiben. „Lockdowns funktionieren nicht in Ländern, wo Armut herrscht“, sagt sie. „Die meisten Menschen leben hier von der Hand in den Mund. Das heißt, wenn sie nicht arbeiten können, haben sie kein Geld mehr, sich etwas zu essen zu kaufen und die Familie zu ernähren. Viele würden verhungern.“
Die Menschen vor Ort müssen also trotz des Risikos rausgehen, um Geld zu verdienen. Denn keine Arbeit zu haben, bedeutet, dass kein Essen gekauft werden kann. „Vielen bleibt keine andere Wahl. Zu Hause zu bleiben ist ein Privileg“, sagt sie.
Auch „social distancing“ ist in Afrika kaum wie in Europa umzusetzen. Viele leben auf engstem Raum, Abstandsregeln sind in dicht besiedelten Vierteln kaum umsetzbar. Und auch der Zugang zu Wasser und Seife ist in vielen afrikanischen Ländern schwierig. Vor allem in ländlichen Regionen. „In Kigamboni, einem ländlichen Stadtteil von Dar es Salaam, haben zwar die meisten einen Kübel mit Wasser und Seife vor ihrem Geschäft gestellt, damit sich die Menschen die Hände waschen können. Aber das ist nicht überall so. Viele haben keinen Zugang zu fließendem Wasser, regelmäßiges Händewaschen ist nicht immer möglich.“
Bauchschmerzen bereitet ihr aber vor allem, wie der tansanische Präsident John Mogufuli mit dem Coronavirus umgeht. „Ich bin verärgert darüber, dass er das Coronavirus leugnet. Er sagt, Covid-19 existiert nicht. Das ist gefährlich. Er sagt den Menschen bloß, dass sie Ingwertee mit Zitrone trinken sollen und beten, um sich vor dem Virus zu schützen. Das Problem ist, die Menschen glauben ihn.“
Viele würden deswegen auch das Virus nicht so ernst nehmen. „Viele sagen, da passiert sowieso nichts. Sie denken: Wenn das der Präsident sagt, dann muss es stimmen.“ Mittlerweile hat Präsident Magufuli das Coronavirus sogar für besiegt erklärt. Die Infektionskrankheit sei „dank Gott eliminiert“ worden – sagte er erst kürzlich vor Gläubigen in Tansania. Lantschner kann darüber nur den Kopf schütteln: „Ich bezweifle, dass die Verbreitung des Coronavirus tatsächlich gestoppt wurde. Niemand weiß, wie viele es Infizierte und Tote gibt. Wir bekommen schon seit Monaten keine Informationen mehr. Es werden keine Statistiken mehr veröffentlicht. Das ist ein ungutes Gefühl. Wir wissen nicht, was Sache ist, ob nach wie vor eine erhöhte Gefahr für uns besteht“, sagt sie.
Magufuli wird seit Längerem vorgeworfen, die Anzahl der Corona-Infektionen und Toten in Tansania zu verschleiern. Offizielle Angaben, wie viele Menschen getestet wurden, gibt es nicht. Im Mai warnte die US-Botschaft vor einem rasanten Anstieg von Fällen und sagte, das Risiko einer Ansteckung in der größten Stadt Dar es Salam sei „extrem hoch“.
Ende Juni sollen wieder alle Schulen in Tansania öffnen. Ob das eine gute Idee ist, kann Lantschner nicht sagen. Sie hofft, dass sich die Situation bald wieder normalisiert und sie wieder arbeiten gehen kann. Denn auch sie hat die Krise getroffen: „Ich arbeite für ein Safari-Unternehmen. Da aber bis circa Mitte August keine Touristen mehr kommen, habe ich zurzeit keine Aufträge. Ich bin aber guter Dinge, dass es dann wieder aufwärts geht“, sagt die 30-Jährige abschließend. Für das Hilfsprojekt, das junge Frauen in schwierigen Lebenssituationen unterstützt, arbeitet sie ehrenamtlich.
„Pa1-Together“
Das Projekt „Pa1-Together“, das Julia Lantschner gegründet hat, bildet junge Frauen, die oft schwere Schicksalsschläge verkraften mussten, zu Schneiderinnen aus. Der Verein versucht bedürftigen, misshandelten und traumatisierten Frauen einen Weg aus Armut und Unterdrückung aufzuzeigen und hat zu diesem Zweck eine Nähschule gegründet. Die Frauen haben dann die Möglichkeit auf eine Arbeitsstelle oder sie können sich selbständig machen. Der Verein leistet Hilfe zur Selbsthilfe. Seit etwas mehr als einer Woche ist die Nähschule wieder geöffnet. Zum Schutz der Frauen wurde sie ein Zeitlang geschlossen.
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