Der vergessene Turm
Nur wenige wissen noch, dass es neben dem berühmten versunkenen Turm am Reschen ein Pendant in Schnals gibt. Das geflutete Leiterkirchlein in Vernagt – ein weitgehend vergessener Teil Südtiroler Heimatgeschichte.
von Karin Gamper
Während sich spätestens seit der Netflix-Serie „Curon“ alle Aufmerksamkeit auf den berühmten versunkenen Turm im Reschensee richtet, ist sein Pendant im Schnalstal weitgehend in Vergessenheit geraten.
Die Rede ist von der Turmruine des einstigen Leiterkirchleins in Vernagt. Genauso wie Alt-Graun am Reschen musste auch der kleine Schnalser Weiler auf 1.689 Meter Meereshöhe moderner Technik weichen. In den späten 1950er Jahren wurden das Leiterkirchlein und die sieben danebenliegenden Höfe abgetragen. Anfang der 1960er Jahre dann versank der blühende Weiler in den Fluten des Vernagter Stausees, ein von den damaligen Etschwerken der Städte Bozen und Meran betriebenes Projekt.
Am Rande des Stausees, der sich über eine Fläche von rund 100 Hektar erstreckt und bis zu 60 Meter tief ist, entstand das neue Vernagt. Vom alten Weiler übrig geblieben ist nur der Turm des Leiterkirchleins, der allerdings fast das ganze Jahr über vom See bedeckt ist. Nur im Frühjahr, wenn der Wasserstand niedrig ist, ragt das Türmchen aus den Fluten. Allerdings haben die Elemente Wasser und Eis dem Bauwerk arg zugesetzt. Trotz wiederholter Sanierungsversuche konnte das Dach dem mächtigen Druck des zugefrorenen Sees nicht standhalten und ist zerborsten.
Einer, der sich intensiv mit der Geschichte des Weilers und des Leiterkirchleins auseinandergesetzt hat, ist Bürgermeister Karl Josef Rainer, selbst in Vernagt verwurzelt. Im Jahr 1991 hat er am Buch „Schnals. Aus Geschichte und Gegenwart eines Südtiroler Hochgebirgstales“ mitgewirkt. Dieses widmet dem Leiterkirchlein ein ausführliches Kapitel.
Darin werden die Errichtung und der Abriss des sakralen Bauwerks nachgezeichnet. Das Kapitel enthält auch Anmerkungen zu Alt-Vernagt, die ansonsten wohl endgültig aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden wären.
So geht der Ursprung des Kirchleins auf die beiden Höfe Unterleit und Oberleit zurück, die zusammen im Jahre 1727 eine Kapelle und schließlich im Jahre 1800 das größere Kirchlein gebaut haben. Die beiden kleinen Glocken der Kirche kauften die Leithofbauern 1812 vom Benediktinerstift Marienberg im oberen Vinschgau. Der Turm, der als Wahrzeichen übrig geblieben ist, wurde 1820 fertiggestellt. Mit der Flutung des Weilers und des Leiterkirchleins ist auch das alljährliche Leiterfest untergegangen, wird in dem Buch angemerkt.
Die letzte Heilige Messe feierte am Abend des 31. Juli 1957 Pfarrer Rudolf Gamper. Anschließend wurden in Erwartung des Abrisses und der Flutung der Kirche die Messgewänder und liturgischen Utensilien in Sicherheit gebracht. Der Altar wurde ebenfalls abgebaut und verwahrt. Denn bereits damals gab es Überlegungen, das alte Leiterkirchlein mit Unterstützung der Etschwerke neu aufzubauen. Ein Plan, der später auch umgesetzt werden sollte. 1997 wurde die Kirche am Ostufer neu errichtet.
„Der Weiler Vernagt teilt sein Schicksal mit Alt-Graun, nur hat das Stauseeprojekt hier in Schnals nicht so viele Menschen wie am Reschen betroffen“, resümiert Bürgermeister Karl Josef Rainer. Eine touristische Nutzung des Turms nach Reschener Vorbild wurde in Schnals nie in Betracht gezogen. „Das ist nicht vergleichbar“, winkt Karl Josef Rainer ab. Die Turmruine ist nicht mehr intakt. Und im Gegensatz zum Turm am Reschen ragt das Vernagter Türmchen nur für kurze Zeit im Jahr aus dem Wasser.
Und daher ist der Besuch der Turmruine ein Geheimtipp für Eingeweihte geblieben, die wissen, wann der See im Frühjahr einen Blick auf die letzten Spuren des versunkenen Weilers preisgibt.
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Kommentare (2)
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meintag
Kann es sein dass beim Bau des Stausees in Schnals die Etschwerke Meran/Bozen beteiligt waren? Wenn denn wieso wird hier mit anderen Massstäben verfahren als im Vinschger Oberland?