Findlinge
naturAnes: Der Grödner Bildhauer Hermann Josef Runggaldier zeigt im Kreis für Kunst und Kultur in St. Ulrich neue Skulpturen.
(sh) „In der Menge ist man allein, in der Natur nicht“, lautet ein Leitmotiv des Bildhauers Hermann Josef Runggaldier. Diese Erfahrung des Alleinseins in der Menge dekliniert er in Körperskulpturen durch, die den Mensch als Individuum oder Gruppe, als soziales und gesellschaftliches Wesen, vor allem aber in seiner zunehmenden Isolation und Berührungslosigkeit zeigen.
Seine Figuren sind männlich oder weiblich, meist nackt, gelegentlich zum kopflosen Torso fragmentiert, häufig mit expressionistischer Längung der Gliedmaßen, sie stehen in der Mehrzahl aufrecht, allein, zu zweit, mitunter auch in der Gruppe. Ihre Gesichter, Signatur des Individuums, sind bis zur Ausdruckslosigkeit verschlossen, stumm und beredt zugleich lenken sie in konfrontativen Spiegelblicken den Blick des Betrachters auf sich selbst zurück.
Sie zeigen nicht jemanden, sie zeigen distanziert, anonym und rätselhaft die menschliche Figur jenseits aller sozialen Definitionen und Zeiten. Selbst wenn sie andeutungsweise Handelnde sind – durch Verschränkung der Arme oder eine schamhafte Drehung des Körpers – herrscht der paradoxe Eindruck statuarischer Bewegung vor, der von der elementaren Einfachheit der archaischen Skulptur inspiriert zu sein scheint. Ähnlich wie ägyptische Figuren sind es auf das Wesentliche reduzierte Bewegungsabläufe und Dispositionen. Als Betrachter nimmt man an der Einsamkeit und Intimität von opaken Figuren teil, die unerreichbar erscheinen. Ihr statuarische Ruhe vermittelnde Außenform steht im Kontrast zur Unruhe der inneren Form. Raum ist bei Runggaldier immer Zwischenraum, er ergibt sich aus dem „Zwischen“, das Menschen miteinander und gegeneinander erschaffen. Durch Scheiben getrennt, stehen die Figuren in der Transitarchitektur eines Flughafens, jenen neuralgischen Funktionsorten des modernen Lebens, die der französische Anthropologe Marc Augé als „Nicht-Orte“ beschreibt. In existenzialistischer Begrifflichkeit könnte man darin Entfremdung, Einsamkeit, die Erfahrung der Isolation sehen.
Auf Wandarbeiten, die zugleich Bild, Relief und Skulptur sind, kombiniert er Wurzeln, Sinnbild abgestorbener Natur wie neu sprossenden Lebens, mit Kupferblechen zu konstruktiven Kompositionen, die Annäherung und Entzug des Naturgeschehen suggerieren. Nicht Natur-Mimesis, sondern Natur selbst setzt er in der doppelten Rahmung des Bild- und Fensterrahmens wie eine Reliquie in eins und doch getrennt als das entgegenstehende Andere.
Weit über bloße formalästhetische Erforschungen hinausgehend, beschäftigt sich Runggaldier seit einigen Jahren vermehrt mit einem Material, das man als Findlinge bezeichnen könnte. Findlinge sind solitäre und unbearbeitete Steine, die während der Eiszeiten durch Gletscher transportiert wurden, im Kontext von Runggaldiers künstlerischer Arbeit bezeichnen sie gefundene Holzstücke, die durch Fraßgänge von Borkenkäfern und Ameisen eine zeichnerische Struktur aufweisen. Diese kleinen und unauffälligen Lebewesen nagen labyrinth-artige Hohlräume in das Holz und nutzen es als Nistmöglichkeit. Im Gegensatz zum Ewigkeitsgefühl des steinernen Findlings ist den in der freien Natur gefundenen, morschen Holzstücken Melancholie und Vergänglichkeit eingeschrieben. Runggaldier eignet sie sich an, indem er auf 3D-Scan basierte Replikas daraus erzeugt und sie durch Vergrößerung in Monumente transformiert. Organische Materialität und digitale Reproduzierbarkeit von Natur im 3D-Verfahren verflechten sich in alltäglichen digitalen Operationen von Kopieren und Einfügen.
Der „Pencile of Nature“ (Zeichenstift der Natur) hat diese zerbrechlich schönen Hölzer geschaffen, keine Menschenhand war im Spiel. Runggaldier zeigt die Arbeit der Tiere, verfremdet einzig durch die Transformation der Größe und durch Farbe, um die Strukturen exakter zum Vorschein zu bringen. Man kann diese Fundstücke aus der Natur als Objet trouvés bezeichnen, an denen der Künstler nur geringfügige Bearbeitungen vornimmt, sie also lediglich präsentiert und zur Kunst erklärt.
Für die Kunst war ihr Verhältnis zur Natur seit jeher von eminenter Bedeutung bei der Bestimmung ihrer Identität, wobei sie stets in ihrem Unterschied zur Natur gesehen wurde. Runggaldier hingegen macht natürliche Prozesse sichtbar, wobei sein Materialverständnis der Schlüssel ist. Er transferiert das gefundene Material in die universelle Form der Skulptur und stellt es damit in den klassischen Kontext des Bildhauer-Körpers.
Die tierischen Spuren in den Holzfindlingen wirken wie gekritzelte Linien, vergleichbar den noch ungeformten Versuchen des Zeichnens von Kindern. Sie sind zugleich klar und vage, sie changieren zwischen Unform und Form, sie sind von großer Eleganz und zugleich Ereignisse des Formlosen. Es lässt sich weder sagen, sie seien Kritzeleien von etwas, noch kann in ihren sich überwerfenden Linien eine Ähnlichkeit zu etwas ausgemacht werden.
Kann man diese Graphismen als Schriftbilder der Natur verstehen, die avancierten künstlerischen Kritzeleien – etwa den Zeichnungen von Cy Twombly – nahestehen?
Der französische Paläontologe André Leroi-Gourhan hat die ersten menschlichen Einkerbungen, das Kritzeln auf Knochen oder Holzstücken als den Ursprung von Kultur schlechthin bezeichnet. Hermann Josef Runggaldiers Findlinge überführen die Schrift der Natur in eine von Menschen lesbare Dimension.
Termin: Die Eröffnung ist auf dem Kanal https://www.youtube.com/channel/UCiEwPFLXoP5qgmFDzy1G5vA/videos zu sehen.
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