Vergessene Kinder
Psychologen und Eltern schlagen Alarm: Die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen werden ignoriert.
von Eva Maria Gapp
„So kann es nicht mehr weitergehen“, betont die Psychologin und Psychotherapeutin Lydia Scherer Überbacher, die im Namen von weiteren zehn Psychologen und Psychotherapeuten spricht: „Kinder und Jugendliche werden momentan schlicht und ergreifend übersehen und vergessen. Ihre Bedürfnisse spielen so gut wie gar keine Rolle.“
Kinder würden nach wie vor allem als potenzielle Virus- und Gefahrenüberträger angesehen werden, vor denen sich die Gesellschaft schützen muss. Auf die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen werde zu wenig Rücksicht genommen: „Während die Wirtschaft wieder in vollem Gange ist, wenn auch mit deutlichen Einschränkungen und Sicherheitsmaßnahmen, haben die Kinder und Jugendlichen nach wie vor keine Perspektiven für eine Rückkehr in einen halbwegs „normalen“ Alltag bekommen“, kritisiert die Psychologin.
Dabei seien Kinder und Jugendliche ausgerechnet diejenigen, die am wenigsten mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch eine Infektion mit Covid-19 zu rechnen haben. „Sie müssen aber am längsten auf ein ganz normales Leben verzichten.“ Für Überbacher und ihre Kollegen unverständlich.
Weil sie nicht länger tatenlos zusehen wollen, haben sich Überbacher und zehn weitere Psychologen und Psychotherapeuten dazu entschieden, einen offenen Brief an die Politik zu schreiben. „Verlieren Sie keine Zeit mehr!“ lautet der Titel ihres offenen Briefes, der an den Landeshauptmann Arno Kompatscher, Bildungslandesrat Philipp Achammer und Soziallandesrätin Waltraud Deeg, gerichtet ist. „Wir fordern von der Politik, dass sie mehr Rücksicht auf die Kinder nimmt, auf deren Bedürfnisse und Wünsche“ – so die Psychologen.
Die massive Beschränkung der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen habe bereits negative Auswirkungen: „Wir hören immer wieder von Eltern, dass ihre Kinder sich stärker zurückziehen und sich nicht mehr mitteilen wollen. Andere werden weinerlich oder aggressiv. Sie leiden darunter, dass sie ihre Freunde nicht sehen können, nicht in die Schule dürfen“, erzählt Überbacher.
Hinzu kommt: Durch die Schließung von Schulen, Kitas und Kindergärten fehle den Kindern und Jugendlichen die Voraussetzungen für ihre körperliche, geistige und seelische Entwicklung. Nur ein Bruchteil der Kinder darf in die Notbetreuung. Ein Umstand, den die Psychotherapeuten und Psychologen kritisieren:
„Die Notbetreuung für eine Gruppe von Kindern mutet wie ein Feigenblatt an. Die Kriterien für die Auswahl dieser Gruppen sind diskriminierend, sowohl für die „Außerwählten“ als auch für jene, die den vorgeschriebenen Kriterien nicht entsprechen.“ Diese Diskriminierung müsse aufhören.
Und auch der Fernunterricht sei keine optimale Lösung – wie die Psychologen und Psychotherapeuten in ihrem Brief betonen: „Das Lernen im Sozialen, das neben der Wissensvermittlung nachweislich mindestens genauso wichtig für eine gesunde Entwicklung ist, fällt auf diese Weise total durch den Rost, ebenso ein ganz natürliches Bedürfnis von Kindern mit Gleichaltrigen in Kontakt zu sein.“ Außerdem würden fehlende Tagesstrukturen in den Familien und wegfallende Hilfsangebote die Gefahr von Vernachlässigung erhöhen.
Mit Sorge beobachten die Psychologen aber auch die zunehmende Anzahl von Eltern, die mit der jetzigen Situation maßlos überfordert sind. Denn das habe auch erhebliche Auswirkungen auf die Kinder: „Wenn Eltern überfordert und gestresst sind, überträgt sich das auch auf das Kind. Erst vor kurzem hat mir eine Mutter unter Tränen erzählt, dass ihr Kind ein Störenfried geworden ist, weil sie nicht mehr die Kraft hat, das Ganze alleine zu schaukeln. Sie war total verzweifelt und erschöpft.“
Dass es so nicht mehr weitergehen kann, wissen auch die beiden Mütter Barbara Bussani und Francesca Monorchio. „Unsere Kinder können nicht ständig in Angst leben. Es ist Zeit, dass sie wieder ein normales Leben führen können.“
Die beiden Mütter sind Teil einer Gruppe von Eltern, Lehrern, Mitarbeitern des Gesundheitspersonals und Bürgern, die sich zusammengeschlossen und nun eine Unterschriftensammlung gestartet haben. Sie möchten auf die Nöte der Kinder und Jugendlichen aufmerksam machen:
„Nach monatelangem Fernunterricht und sozialer Distanzierung zeigen Kinder und Jugendliche zunehmend Unbehagen. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Ihm das spontane Erleben von Beziehungen und persönlichen Kontakt zu anderen bereits in jungen Jahren derart zu verweigern, hat schwerwiegende und dauerhafte Auswirkungen auf das Wohlbefinden.“ Es sei beschämend, dass die lebenswichtigen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen völlig ignoriert werden.
Bauschmerzen bereitet ihnen aber vor allem, wie der Unterricht ab Herbst aussehen soll. Mit Maske und Abstand. Kinder und Jugendliche dürften sich also nicht einander nähern. „Wir möchten nicht, dass unsere Kinder die ganze Zeit entfernt voneinander sitzen, vielleicht durch Plexiglasscheiben getrennt und dass sie dabei viele Stunden am Tag eine Maske tragen sollen“, erklären sie.
Vor allem Monorchio beunruhigt diese Tatsache: „Das lange Tragen einer Maske kann schwerwiegende gesundheitliche Folgen nach sich ziehen, nicht nur körperliche, auch emotionale, soziale und psychologische. Außerdem erschwert sie die Atmung und die Kommunikation. Die Maske ist eine Schutzvorrichtung, die in bestimmten Kontexten eingesetzt werden muss, sie kann aber weder in einem Klassenzimmer noch im Freien zur Auflage gemacht werden.“
Sie fordern deshalb die Maskenpflicht zu überdenken und neue Wege auch im Hinblick auf den Unterricht einzuschlagen. Denn eine solche Vorstellung von Schule könnten die Mütter nicht akzeptieren. „Wir sind damit nicht einverstanden. Wir können keine Vorstellung von Schule akzeptieren, in der Beziehungen durch Bestimmungen geregelt werden, die es unseren Kindern verbieten, sich einander zu nähern und frei zu spielen“, betonen sie.
Die beiden Mütter hätten auch bereits einige Ideen, wie der Unterricht im Herbst stattfinden könnte: So könnte etwa eine Didaktik ins Auge gefasst werden, die in kleineren Gruppen stattfinden kann, Geld könnte in neue Räumlichkeiten und Außenbereiche investiert werden und gewisse Themenbereiche könnten in Museen, Gärten usw. erarbeitet werden.
Ihr abschließender Appell an die Politik: „Es ist an der Zeit, die Situation anders anzugehen. Ein Nullrisiko hat es nie gegeben und wird es auch nie geben. Kehren wir zum gesunden Menschenverstand zurück und lassen wir Kinder und Jugendliche wieder leben und wachsen.“
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