„Die Angst vor dem Fremden“
Der Historiker Claus Oberhauser erklärt, was hinter Verschwörungstheorien steckt – und wer sie verbreitet.
Tageszeitung: Herr Oberhauser, warum haben Verschwörungstheorien gerade jetzt in der Corona-Krise Hochkonjunktur?
Claus Oberhauser (Historiker und Experte für Verschwörungstheorien): Krisen sind herausfordernd, da sie alte Gewohnheiten und Gewissheiten schlagartig verändern. Verschwörungstheorien sind ein attraktives Angebot, um in einer Zeit, in der es keine einfachen Antworten mehr gibt, schnell Sinn zu finden. Während man in der Wissenschaft mit Hochdruck nach Lösungen sucht, haben Verschwörungstheorien bereits eine Antwort parat.
Ist die Corona-Krise einzigartig, was diese Vielzahl an Verschwörungstheorien angeht?
Die Corona-Krise ist keineswegs einzigartig hinsichtlich der Vielzahl an Verschwörungstheorien. Dies lässt sich anhand von verschiedenen historischen Ereignissen, die ähnliche Auswirkungen hatten, zeigen. Bereits während des Ausbruchs der Pest im 14. Jahrhundert entstanden viele Verschwörungstheorien. Auffällig ist, dass Verschwörungstheorien heutzutage wesentlich schneller geteilt werden können und dadurch sichtbar werden. Während viele Verschwörungstheorien noch im 18. Jahrhundert eher eine Elitendiskurs waren, breitet sich das Verschwörungsdenken mittlerweile in allen sozialen Klassen aus.
Was ist das Ziel von Verschwörungstheorien?
Verschwörungstheorien haben zum Ziel durch den Blick hinter die Kulissen oder unter die Oberfläche zu zeigen, dass eine „offizielle Erzählung“ nicht so ist, wie sie scheint. Sie dienen dazu, einer Gruppe oder bestimmten wichtigen Menschen zu unterstellen, sich im Geheimen verschworen zu haben, um durch die Krise Geld zu verdienen oder die Menschen zu unterjochen.
Und woher kommen Sie?
Verschwörungstheorien sind einerseits ein Mittel, um sich Dinge und Begebenheiten erklären zu können, für die es keine gängige Erklärung gibt. Andererseits werden Verschwörungstheorien häufig politisch genutzt, um gegen einen Gegner vorgehen zu können. Das heißt, man hat es zu tun mit einer Sinnsuche, einer Suche nach Sündenböcken und der gezielten Unterminierung von (politischen) Gegnern. Sie haben viel mit Kontrolle, Disziplinierung und Angst vor dem Fremden zu tun.
Der Microsoft-Gründer Bill Gates ist derzeit die beliebteste Zielscheibe von wilden Verschwörungstheorien rund um die Corona-Pandemie. Es wird ihm vorgeworfen, für die Verbreitung des Virus verantwortlich zu sein. Warum ist gerade er die beliebteste Hassfigur von Verschwörungstheoretikern?
Bill Gates ist ein prototypischer Fall. Er ist reich, hat sich schon vor einiger Zeit über eine mögliche Pandemie geäußert und ist eine Befürworter des Impfens. Darüber hinaus hat er natürlich eine Technologie entwickelt, die weltweit im Einsatz ist. Verschwörungstheorien stellen, wie gesagt, die Frage: Wem nützt die Krise? Einher geht hierbei die Überzeugung, dass die Reichen noch reicher werden wollen, durch ihr Geld und Unternehmen die Politik bestimmen können, um uns, die Menschheit, zu überwachen. Ferner ist natürlich festzuhalten, dass in solchen Verschwörungstheorien auch ein Körnchen Wahrheit ist. Natürlich ist Bill Gates einflussreich. Es kommt dazu, und das ist immer wieder erstaunlich, dass gerade Kosmopoliten oder Konzernchefs, die weit über bestimmte Staatsgrenzen hinaus wirken und sozial stark engagiert sind, häufig vorgeworfen wird, Anführer einen großen Verschwörung zu sein. Ähnlich verhält es sich mit George Soros, dem man zuerst in Ungarn und dann in ganz Europa vorgeworfen hat, der Drahtzieher hinter dem in Verschwörungstheorien sogenannten „Großen Austausch“ zu sein. Philanthropie ist also offensichtlich ein Problem für viele Menschen.
Was sind das eigentlich für Menschen, die solche Theorien entwickeln und in die Welt setzen?
Diese Frage ist schwer zu beantworten: Grundsätzlich geht man in der Forschung davon aus, dass Menschen, die wirklich an ihre Theorien glauben, eine Art Erweckungserlebnis haben und glauben im Besitz einer exklusiven Wahrheit zu sein. Meistens geht dies einher mit persönlichen Krisen wie dem Verlust der Arbeit oder zu wenig Anerkennung. Andere verwenden Verschwörungstheorien, um gegen einen Kontrollverlust vorzugehen und sie finden Halt in einer Gruppe von Gleichgesinnten. Es gibt aber sicherlich einige, die nicht wirklich an ihre eigenen Theorien glauben, damit Geld verdienen oder Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen. Politiker zum Beispiel benutzen Verschwörungstheorien häufig als (politische) Strategie, um ihre Wählerschaft mobilisieren zu können.
Man kann mit diesen Theorien also auch Geld verdienen…
Natürlich kann man mit Verschwörungstheorien Geld verdienen. Verschwörungstheoretische Bücher verkaufen sich blendend, auf YouTube erreichen manche Millionen Klicks, Vorträge sind ausgebucht usw.
Sollte man diese Menschen ernst nehmen?
Die Problematik besteht vielmehr darin, dass wenn man Verschwörungstheoretiker belächelt oder sich über sie lustig macht, sie noch vielmehr in ihrer Weltsicht bestätigt werden. Darüber hinaus ist der naive Glaube an die Wahrheit der offiziellen Erzählung ebenso nicht wünschenswert.
Wer ist besonders empfänglich für Verschwörungstheorien?
Grundsätzlich sind wir alle empfänglich: Mehrere Studien haben darauf hingewiesen, dass über die Hälfte der Amerikaner bzw. der Europäer an zumindest eine Verschwörungstheorie glauben. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass wir alle ein bisschen Verschwörungstheoretiker sind. Psychologische Forschungen haben ergeben, dass Menschen, die sich machtlos fühlen oder Schwierigkeiten haben, Unsicherheit zu akzeptieren, besonders anfällig dafür sind, an Verschwörungstheorien zu glauben.
Sind Verschwörungstheorien gefährlich?
Verschwörungstheorien an sich sind nicht gefährlich. Wenn sie jedoch dazu führen, dass sie Anhänger dazu bringen, Gewaltakte durchzuführen, ist dies besorgniserregend. Ich erinnere hier nur an die 5G-Masten. Darüber hinaus wird es in Zukunft sehr interessant werden, wenn schlussendlich ein Impfstoff gefunden werden kann, um sich vor dem Virus zu schützen. Wird es so etwas wie eine Zwangsimpfung geben müssen, weil sich einige Menschen weigern, sich impfen zu lassen, weil man der Meinung ist, dass die Impfung das Ergebnis einer sinisteren Verschwörung ist? Berühmte Menschen wie Novak Djokovic sprechen sich öffentlich gegen eine Impfung aus. Dies wird ein Problem werden.
Würden Sie sagen, dass dieses Phänomen zu- oder abnimmt?
Durch das Internet werden Verschwörungstheorien wesentlich mehr als früher sichtbar und man redet auch mehr darüber. An sich wäre es wohl verfehlt anzunehmen, dass wir heutzutage in einem verschwörungstheoretischen Zeitalter leben. Dies war eigentlich immer schon so. Vielmehr sollte man zur Kenntnis nehmen, dass Verschwörungstheorien zur Sinnsuche in Krisen dazugehören. Solange man damit niemandem schadet, ist dies kein Problem. Man sollte Verschwörungstheorien nicht überdramatisieren, gleichzeitig aber nicht unterschätzen.
Soll man sich vor diesen Theorien schützen?
An sich ist das nicht notwendig. Problematisch ist die Konsumation von Verschwörungstheorien aber dann, wenn man destabilisiert wird und nicht mehr weiß, wem man trauen kann. Ich empfehle immer wieder aus der eigenen Filterblase auszusteigen.
Interview: Eva Maria Gapp
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