Kollektiver Intelligenztest
Roland Keim ist der Leiter des Psychologischen Dienstes Brixen und Koordinator des Hilfsnetzwerks Psyhelp Covid 19. Wie belastend sind die Ausgangsbeschränkungen und die soziale Isolation für psychisch erkrankte Menschen?
Tageszeitung: Herr Keim, die Ausgangsbeschränkungen und die Quarantäne sind massive Belastungsproben für uns alle. Was machen diese Maßnahmen mit der Psyche von psychisch erkrankten Menschen?
Roland Keim: Zunächst einmal macht das mit uns allen etwas, unabhängig davon, ob wir psychisch vorbelastet sind. Und es ist ja nicht nur die Isolation, die uns zu schaffen macht. Eine gerade veröffentlichte chinesische Studie zeigt, dass negative Gefühle und negative Gedanken ganz allgemein deutlich zulegen. Normalerweise hilft uns der soziale Kontakt bei der Stressbewältigung, dieser ist jetzt erschwert. Hinzu kommen oft berechtigte finanzielle Sorgen und ein Gefühl der Ohnmacht. Wir würden spontan annehmen, dass psychisch kranke Menschen ausnahmslos in eine besonders kritische Situation schlittern. Das kann ich in dieser absoluten Form aber nicht bestätigen: in der klinischen Praxis bin ich oft erstaunt darüber, wie gut gerade diese Menschen mit der aktuellen Situation zumindest kurzfristig zurechtkommen. Längerfristig dürfte sich freilich ein anderes Bild ergeben.
Ist der Psychologische Dienst im Krankenhaus aufrecht und wie laufen die Behandlungen ab? Müssen Sie bei den Gesprächen Schutzmasken tragen?
Ja, wir arbeiten natürlich weiter, allerdings haben wir – wo immer möglich – auf telematische Betreuung umgestellt. In anderen Ländern hat man damit bereits Erfahrungen auch vor den COVID-19 Zeiten gesammelt. Für uns ist das eine neue Erfahrung, funktioniert aber besser als erwartet. Wo wir dennoch direkt in Kontakt mit Menschen sind, tragen wir natürlich Masken. Da ziehe ich aber einen Videoanruf oder auch nur ein Telefongespräch ohne Maske vor.
Mit welchen Problemen und Fragen kommen die Menschen?
Neben den üblichen Fragen werden wir vermehrt mit Problemen in Zusammenhang mit der Ausgangssperre, Quarantäne, mit Schuldgefühlen, Stressbewältigung bei Betroffenen, Angehörigen und Gesundheitspersonal, unerträglicher Einsamkeit, Trauer oder Ängsten in Zusammenhang mit diesem Coronavirus konfrontiert.
Das Virus dürfte ein idealer Nährboden für die Leiden von psychisch instabilen Menschen sein. Nehmen Isolation, Depression und Angststörungen erkennbar zu?
Grundsätzlich ja, wie Studien zu früheren Epidemien zeigen. Ich würde mich aber hüten, diese Zunahme auf die Gruppe der psychisch instabilen Menschen zu beschränken. Diese Gruppe gibt es als solche nämlich gar nicht als fixe Größe. Wer instabil wird, hängt zumeist auch von der Art, Dauer und Ausmaß der Belastung, sozialer Unterstützung und persönlichen Bewältigungsstrategien ab. Die meisten von uns gehören nicht einfach in die eine oder andere Kategorie.
Was können Angehörige von psychisch Geschwächten jetzt tun, worauf müssen sie achtgeben?
Dasselbe, was Sie auch für andere Menschen tun sollten: Füreinander da sein, miteinander reden, auch über eigene Gefühle. Das klingt lapidar, ist es aber nicht. Wir sollten das auch ohne Coronavirus können, dafür braucht man auch kein Psychologe zu sein. Wenn es dann zu größeren Schwierigkeiten kommt, gibt es genügend Anlaufstellen, an die sich die Menschen niederschwellig und nach Wunsch auch anonym wenden können.
Die Ausgangsbeschränkungen sind hart und manchmal auch unverständlich. Richtet das Verbot, einen Waldspaziergang zu unternehmen, mehr Schaden an als es vermeidet?
Die strengen Ausgangsbeschränkungen richten mit Sicherheit vielfachen Schaden an, vor allem wenn sie länger anhalten. Dazu gehören nicht nur wirtschaftliche Schäden, sondern auch gesundheitliche. Denken wir an die Folgen von Bewegungsmangel, Veränderung der Essgewohnheiten, Stress und eventuellen Mangel an Vitamin D. Wer aber nahe genug an erkrankten Patienten ist und die Schicksale hautnah mitbekommt, schätzt diese Verbote anders ein. Man wird für die Zukunft einen Kompromiss finden müssen, der regional unterschiedlich sein soll. Die Zeit hierfür wird dann gekommen sein, wenn die Infektionszahlen auf ein Niveau sinken, die eine kontrollierte Eingrenzung durch andere Maßnahme ermöglichen. Wie dieser Kompromiss ausschauen wird, hängt primär davon ab, wieviel Disziplin man uns zutraut. Solange es uns nicht gelingt, konsequent die Übertragungswege zu durchbrechen, wird der Gesetzgeber einschreiten müssen. Wie vernünftig und solidarisch wir Südtiroler sind, wird sich vor allem nach der Lockerung der Ausgangssperre zeigen. Wenn man so will, unterziehen wir uns gerade einem kollektiven Intelligenztest. Ich gebe Ihnen aber insofern recht, als dass eine jede Maßnahme für die Bevölkerung nachvollziehbar sein muss. Ich wünsche mir insofern, dass die nächsten Maßnahmen unter Einbeziehung von Fachleuten aus den unterschiedlichsten Bereichen, von Sanität über Ethik, Wirtschaft, Gewerkschaften und Politikern auf der Grundlage von genaueren Daten beschlossen werden. Da wir immer noch erstaunlich wenig über dieses Virus wissen, brauchen wir sofort Initiativen, um auch bei uns die Datenlage zu verbessern. Soviel ich weiß, bewegt sich hier nun einiges, was mich optimistisch stimmt. Aber es muss schnell gehen!
Enge zwischenmenschliche Kontakte sind zu vermeiden. Für Menschen, die bereits an sozialer Isolation leiden, dürfte das Gift sein, oder?
Das sehe ich anders. Es ist eher Gift für jene, die gerne und viel Sozialkontakt haben. Wer in sozialer Isolation lebt, leidet nicht zwangsläufig darunter. Umgekehrt kann man sich auch inmitten vieler Menschen einsam fühlen. Einsamkeitsgefühl ist also nicht gleichzusetzen mit sozialer Isolation. Entscheidender ist dieses Einsamkeitsgefühl, das konnte die psychologische Forschung mehrfach zeigen. Und dieses Einsamkeitsgefühl kann richtig krankmachen, psychisch und vor allem auch körperlich. Es gibt sogar deutliche wissenschaftliche Hinweise darauf, dass die virale Ansteckungsgefahr durch chronische Einsamkeit, Stress und fehlendem Körperkontakt beachtlich erhöht wird. Glücklicherweise können wir zumindest das Gefühl der Einsamkeit heutzutage durch Kommunikationsmedien etwas abmildern, auch wenn ein Handy keine Umarmung ersetzen wird. Im Augenblick ist Geduld angesagt oder wie es jemand anders mal formuliert hat: wir müssen auseinanderrücken, um uns später wieder näher kommen zu können.
Man hört vielfach von einer Zunahme emotionaler und physischer Gewalt in den Familien durch den Quarantänestress. Betrifft das auch oder vor allem psychisch Kranke?
Mir sind zwar keine Daten aus der aktuellen Pandemie bekannt, aber es ist plausibel, dass Gewalt zunimmt, wenn man länger auf engem Raum zusammenleben muss und es kaum Ausweichmöglichkeiten gibt. Natürlich neigen psychisch labile Menschen statistisch eher dazu. Aber wir dürfen nicht den Umkehrschluss ziehen, wonach psychisch kranke Menschen für andere Mitbewohner eine Gefahr wären. Es neigen jene zu Gewalt, die keine Frustrationstoleranz haben und sehr impulsiv sind. Nur die wenigsten davon gelten aber im Alltag als psychisch krank!
Sie koordinieren das Hilfsnetzwerk Psyhelp Covid 19. Was leistet dieses Netz?
Ich bin ein Mitglied dieser Psyhelp Covid 19. Dieses Netz sollte vor allem die Hilfsangebote für die Bevölkerung bündeln, eine Orientierung geben und Informationen zu den psychischen Aspekten dieser Pandemie bereitstellen. Die Verbreitung des Virus ist nämlich nicht nur eine Frage der Genstruktur und der Hülle des Virus, sondern vor allem auch des menschlichen Verhaltens!
Eine Frage zuletzt: Wie erklärt der Psychologe Hamsterkäufe von Toilettenpapier?
Angst treibt seltsame Blüten!
Interview: Heinrich Schwazer
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