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„Das ist total irrational“

Herbert Dorfmann kritisiert die sture Haltung Italiens im Streit um die Corona-Bonds. Und er warnt: Das Überleben der EU stehe auf dem Spiel. 

Tageszeitung: Herr Dorfmann, Premier Giuseppe Conte hat klargestellt, dass Italien die Mittel aus dem ESM nicht anrühren werde. Gleichzeitig weigern sich Deutschland und die Niederlande nach wie vor, den von den Südländern geforderten Corona-Bonds zuzustimmen. Warum tun sich die EU-Staaten so schwer, eine Einigung zu finden?

Herbert Dorfmann: Das Problem verlagert sich meiner Meinung nach immer mehr nach Rom. Die Debatten, die dort über den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM geführt werden, sind über weite Strecken total irrational.

Wie meinen Sie das?

In dieser ersten Phase der Krisenbewältigung war das Hauptaugenmerk darauf gelegt, die Finanzmärkte abzusichern und einen Anstieg des Spreads zu verhindern. Die größte Gefahr bestand darin, dass Staaten wie Italien ihre Schulden nicht mehr bedienen können, so wie Griechenland, Portugal oder Zypern in Zeiten der Finanzkrise. Aus diesem Grund hat die Europäische Zentralbank entschieden, für 750 Milliarden Euro bis zum Jahresende Staatsanleihen zu kaufen, wodurch sich Italien weiterhin Geld zu günstigen Konditionen – derzeit liegt der Zinssatz bei ca. 1,5 Prozent – leihen kann. Als nächstes wurde der Rettungsschirm ESM aktiviert, über den weitere 400 Milliarden Euro an Kreditzusagen bereitgestellt werden. Conte hat recht, wenn er sagt, dieses Geld brauche Italien nicht zu nehmen, weil es derzeit selbst in der Lage ist, seine Schulden zu bedienen. Drittens hat die Europäische Investitionsbank einen neuen Fonds eingerichtet, der Übergangskredite im Ausmaß von 200 Milliarden Euro für die kleineren und mittleren Unternehmen zur Verfügung stellt. Darüber hinaus haben sich die EU-Regierungschefs darauf verständigt, 100 Milliarden  für eine europäische Ausgleichskasse bereitzustellen.

Wie geht es nun weiter?

Diese Maßnahmen betreffen die erste Phase. EU-Binnenmarkt-Kommissar Thierry Breton hat bereits klargestellt, dass in einer zweiten Phase, wenn die Staaten ihre Haushalte halbwegs in den Griff bekommen haben, weitere 1.600 Milliarden Euro für ein großes europäisches Solidaritätspaket zur Verfügung gestellt werden. Es wird einen Mix an Instrumenten geben, etwa gemeinsame Staatsanleihen und eine Ausweitung des EU-Haushalts. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat bei ihrer Rede im Parlament betont, dass der Haushalt der Union deutlich größer sein muss als der jetzige, um das Wideraufbau-Programm in Angriff nehmen zu können. Das heißt, dass der Beitrag seitens der finanziell starken Staaten steigen muss.

Für Italien sind diese Maßnahmen nicht ausreichend?

Italien hat sich auf einem Justamentstandpunkt verfestigt. Vor allem die Ideologen im Movimento 5 Stelle weigern sich, von diesem Standpunkt abzurücken – weil sie nicht verstanden haben, um was es eigentlich geht. In Italien ist eine große Erwartungshaltung entstanden, auch wegen der völlig falschen Aussagen von Lega-Chef Matteo Salvini. Der ESM ersetzt nicht die anderen Maßnahmen, im Gegenteil. Er ist auch nicht mit dem ESM gleichzusetzen, der zur Rettung von Griechenland eingesetzt wurde, weil das Geld an keine Auflagen gebunden ist. Kein Staat, der sich Geld leiht, wird gezwungen, sich im Gegenzug wirtschaftlich zu sanieren – das wäre in der jetzigen Phase auch gar nicht möglich. Deshalb hat auch Finanzminister Roberto Gualtieri diesem Mechanismus zugestimmt. Doch statt eine pragmatische Lösung anzupeilen, wird in Italien bewusst gegen den ESM geschürt.

Und lautstark nach Corona-Bonds gerufen …

Der Begriff Corona-Bonds ist in Deutschland politisch verbraucht, weil man dort unweigerlich an einen Schuldenschnitt denkt. Doch wenn ich die Worte von Bundeskanzlerin Angela Merkel richtig interpretiere, ist Berlin sehr wohl bereit, viel Geld auf den Tisch zu legen. Deutschland weiß, dass die Kollateralschäden sehr viel größer wären, wenn ein EU-Mitgliedsstaat zahlungsunfähig werden würde. Die Volkswirtschaften liegen am Boden, und wir wissen nicht, wann diese wieder voll funktionsfähig sein werden. Daher ist für mich auch die sture Haltung der Niederlande unverständlich. Es geht ums Überleben der Europäischen Union als Ganzes. Niemand profitiert, wenn die EU vor die Hunde geht.

Interview: Matthias Kofler

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