Im schwarzen Wald
Im schwarzen Wald
(aus dem privaten Curon-Dekameron)
Von Sepp Mall
Hannos Beine waren zu dünn, um damit gehen zu können. Außer Haus trug ihn Vater manchmal auf seinen Schultern. Und im Herbst zimmerte er nach der Arbeit im Keller doch noch einen kleinen Wagen aus Holz zusammen, mit vier Seitenwänden und einer beweglichen Deichsel. Ich durfte dabei zusehen und half ihm, die Gummiräder unseres alten Kinderwagens abzumontieren und am Holzgefährt zu befestigen.
Am Tag, bevor Kathrina, das Nachbarmädchen, und die Ihren auswanderten, trafen wir uns am Holzsteg, der über den Bach in den schwarzen Wald führte. Der schwere Frühlingschnee hatte einige der großen Fichten umgerissen und jetzt lagen sie immer noch quer über den schmalen Pfad und die Enden der abgebrochenen Äste steckten wie Lanzen in der schlammigen Erde. Wie kletterten unter den Stämmen durch und gemeinsam zogen wir Hannos Kutsche hinter uns her.
Schon bei der Brücke hatten wir diesen Geruch wahrgenommen. Es stinkt, hatte Hanno behauptet, aber Kathrina und ich fanden, dass es zwar ein übler Geruch sei, aber kein Gestank. Es roch mehr nach etwas Verdorbenem, Fauligen als nach Mist, und er wehte um uns herum, ließ nach und war plötzlich wieder da.
Nach altem Fleisch, sagte Kathrina, und Hanno hielt sich den Ärmel seines Pullovers über die Nase und widersprach nicht mehr.
Kathrina erzählte, dass sie zuhause auf den gepackten Koffern sitzen würden, weil die Stühle schon alle verpackt und aufgeladen worden seien. Und nur eines der Betten hätten sie nicht zerlegt, weil sie in der kommenden Nacht noch darin schlafen mussten, alle zusammen im selben.
Ich leg mich in die Mitte, sagte Kathrina, damit ich nicht rausfallen kann.
Wir wandern auch bald, sagte ich.
Kurz vor der Lichtung begann Hanno zu schreien. Es waren stockende, abgehackte Laute, fast so, als ob er gleich zu weinen beginnen würde, und mit seiner Hand zeigte er nach oben in den Hang. Ich begriff nicht sofort, was da im Unterholz steckte, nur wenige Schritte vom Pfad entfernt. Erst als wir unter den Sträuchern nach oben geklettert waren, sahen wir die Bescherung.
Es war ein riesiges Tier, das da auf dem Abhang lag und vor sich hinstank. Sein Rücken drückte gegen den Stamm einer großen Fichte und die ausgestreckten Hinterläufe steckten unter den bis zum Boden hängenden Ästen. Kathrina starrte mit schreckensweiten Augen auf den Kadaver und hielt sich dem Mund zu. Dann tappte sie nach meiner Hand, vielleicht hatte sie Angst, dass sie ausrutschte und mitten in dieses Gemisch aus Schmutz und Fell und verwesendem Fleisch hineinstürzte. Weiter unten schrie Hanno, dass wie ihn holen sollten, schließlich wollte auch er sehen, was da war.
Ein Hirsch, flüsterte Kathrina. Mehr als diese zwei Wörter kamen nicht über ihre Lippen, und es war, als ob sie damit das, was ihr Kopf nicht glauben konnte, korrigieren wollte. Dann ließ sie meine Hand los und machte rasch zwei Schritte zur Seite.
Das rotbraune Fell des Tieres war an vielen Stellen aufgerissen und wenn man um den Baumstamm herumging, konnte man tief in den Bauch des Tieres hineinsehen, in die Höhlung mit ihrem bleichen Rippengerüst, aus der das Innere schwarz herausquoll und sich mit dem Waldboden vermischte. Dicht vor Kathrinas Füßen lagen der Hals und der lange Schädel hingestreckt, das Geweih halb in den moosigen Untergrund gebohrt. Aber es war nur eine Geweihstange zu sehen, die zweite fehlte.
Das eine Auge war offen und sah uns unverwandt an. Es war ein mattes Schwarz und wenn man sich bückte und genauer hinsah, konnte man die winzigen Maden entdecken, die sich zwischen den Augenrändern und Wimpern tummelten. Ich zeigte sie Kathrina und sie ging in die Hocke, um sie zu begutachten. Dann zuckte sie mit den Achseln, so, als wäre dies alles nichts Neues für sie.
Von unten rief Hanno weiter nach uns, und erst als genug gesehen hatten, stiegen wir auf den Pfad hinunter, wo seine hölzerne Kutsche stand.
Nur ein Sack, sagte ich, ein Sack voller Gerümpel, den jemand weggeworfen hat, sonst nichts.
Und Kathrina pflichtete mir bei. Altes, stinkendes Gerümpel, sagte sie, bestimmt hat das irgendein Bettler oder Zigeuner hier hingeworfen.
Hanno musste sich mit dieser Erklärung zufriedengeben, es sagte nichts mehr und war froh dass es endlich weiterging. Als wir zu Hause um die Ecke bogen, winkte er Kathrina mit beiden Händen nach, auch dann noch, als sie schon längst im Hinterhof der Metzgerei verschwunden war.
Am Abend im Bett fiel mir das Tier wieder ein. Ich hatte gerade die Augen zugemacht und da war es plötzlich da, in seiner ganzen Länge auf unserer Bettdecke ausgebreitet. Das dunkle Auge, das mich anstarrte, die Gedärme, die aus dem offenen Bauch kullerten und die eine Geweihstange, die über den Rand des Bettes bis auf den Teppich ragte. Sie hatte mindestens sieben Enden, das konnte ich trotz der Dunkelheit deutlich sehen. Der verwesende Körper stank noch übler als am Nachmittag im Wald und mir war klar, dass ich diesen Geruch nie mehr loswerden würde. Er hatte sich an den Innenwände meiner Nase festgesetzt, war bis zuunterst in die Riechöffnungen eingedrungen, die dort saßen, und so sehr ich mich auch bemühte, ihn loszuwerden, ihn mit etwas zu überdecken, es wurde nicht besser. Ich steckte meinen Kopf unter das Betttuch und roch an Hannos verschwitztem Kissen, aber der Gestank war auf der Stelle wieder da.
Er war genauso hartnäckig wie meine Gedanken vom Abschiednehmen, und wenn ich nicht aufpasste, konnte es passieren, dass sie zu ein und demselben wurden, der stinkende Hirsch und das Dorf, das wir verlassen würden, morgen, übermorgen, bald einmal.
Zur Person
Sepp Mall, 1955 in Graun im Vinschgau geboren, schreibt Gedichte, Romane, Hörspiele und Theaterstücke. Er ist Gründungsmitglied der Südtiroler Autorinnen- und Autorenvereinigung (SAAV), Mitglied der Grazer Autorenversammlung (GAV) und der IG Autorinnen Autoren, Wien. Diverse Preise und Stipendien, u. a. Meraner Lyrikpreis (1996), Projektstipendium des österreichischen Bundesministeriums für Kunst und Kultur und Großes Literaturstipendium des Landes Tirol (2017). Der Roman „Wundränder“ wurde 2005 zum „Innsbruck-liest“-Buch gewählt. 2017erschien sein bislang letzter Roman „Hoch über allem“.
Info
Die Sammlung der Texte, die Südtiroler Schriftsteller*innen zu und während der Quarantäne verfassen und als Reihe in der Südtiroler Tageszeitung publiziert werden, mündet in ein Lesefest von Literatur Lana. Zu Beginn des Sommers, hoffentlich, sollen die Kurzerzählungen, Essays, Gedichte oder Notizen in einem langen Reigen gelesen und mit ihnen ein Wiedersehen gefeiert werden. Das Projekt unterstützt Schriftsteller*innen in Zeiten von Corona.
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