„Es gilt, den Totalschaden zu vermeiden“
Kaum einer kennt den lokalen und internationalen Klassikbetrieb besser als Peter Paul Kainrath, der den Busoni-Wettbewerb, das Festival Transart, das Bolzano Festival Bozen leitet und Intendant des Klangforum Wien ist. Sein Fazit ist unmissverständlich: Corona ist für die Kulturszene existenzbedrohend.
Tageszeitung: Herr Kainrath, Sie sind ein Vielreisender in Sachen klassische Musik. Verurteilt das Coronavirus Sie momentan zum Stillstand?
Peter Paul Kainrath: Ja, Stillstand im Kelomat. In einem implodierenden Kulturbetrieb gilt es den Totalschaden zu vermeiden. Schon jetzt muss man so gut wie möglich die Ärmel hochkrempeln, um morgen bei Rückkehr zu einem sogenannten Normalbetrieb unter anderen Vorzeichen, adäquate Strategien fahren zu können. Ich war noch am 5. März in Südtirol, nahm am Tag darauf einen Arbeitstermin in Berlin wahr, begab mich dann in die freiwillige Selbstquarantäne in München und konnte dank eines negativen Corona Virus Tests vorgestern glücklicherweise nach Wien reisen.
China und Südkorea sind hochriskante Weltgegenden, wo Sie häufig zu tun haben. Sind das gegenwärtig No-Go-Zonen für Sie?
Ich pflege viele berufliche wie freundschaftliche Kontakte in beiden Ländern und selbstverständlich sind das keine No-Go-Zonen; allerdings macht es aktuell überhaupt keinen Sinn, auch nur den Versuch zu unternehmen, in diese Länder zu reisen, so wie es auch für die Chinesen und Koreaner keinen Sinn macht, nach Italien oder eben Europa zu reisen. Schlicht gesagt: es macht aktuell überhaupt keinen Sinn zu reisen. Einer der gefährlichen Aspekte dieser Gesundheitskrise ist das Aufflammen nationalistischer Vorurteile. Vergangene Woche erntete ich sehr skeptische Blicke eines Berliner Taxifahrers, weil ich ein italienisches Telefongespräch geführt habe. In Washington fand man nach den Hamsterkäufen der vergangenen Tage nur mehr italienisches Olivenöl in den Regalen, weil unverkäuflich.
Die Corona-Krise trifft die Klassikszene und vor allem freischaffende Musiker hart. Kein Job, kein Einkommen, das ist für viele massiv existenzbedrohend. Wie deprimiert ist die Stimmung?
Wenn es nur die Stimmung wäre, könnte man Beruhigungstropfen nehmen. Es geht um die Realität des Kulturbetriebs und die ist katastrophal. Freischaffende Musikerinnen verleihen einer Gesellschaft Glanz und Tiefe und sind selbst aber hoch prekär unterwegs, ohne gesichertes Einkommen und in der Regel auch ohne Künstlersozialversicherung. Wir sollten gerade jetzt nicht vergessen, dass die eigentliche Bedeutung und Kraft des Kulturbetriebes nicht von den wenigen glitzernden Topstars mit hohen Gagen herrühren, sondern von jenen Tausenden und Zehntausenden Musikerinnen, die den Musikbetrieb in seiner ganzen Breite erst ermöglichen.
Die finanziellen Verluste sind so gravierend, das manche schon ein Sterben unter den Ensembles fürchten. Ist das übertrieben oder ein reales Szenario?
Das ist ein absolut reales Szenario. Vieles im Kulturbetrieb läuft auch über „gentleman agreements“; da gibt es kaum einklagbare Verträge bzw. werden diese in der Praxis oft erst sehr spät finalisiert. Aber auch dies würde nicht viel nützen, weil sich jeder aktuell auf die sogenannte höhere Gewalt beruft und damit nach allen Richtungen die Zahlungen einstellt. Den höchsten Preis zahlen dabei jene, die am Ende der Entscheidungskette im Kulturbetrieb stehen und zwar die freischaffenden Musikerinnen und Ensembles.
Veranstalter, Orchester und Musiker rufen nach dem Staat, um zu retten, was zu retten ist. Wie kann, soll und muss der Staat oder das Land das abfedern?
Sehr, sehr viele rufen nach dem Staat: die Touristiker, das Transportgewerbe und viele andere. Die Kultur muss darauf achten, dass sie nach der ersten Schockstarre deutlich hörbar und sichtbar bleibt und von den anderen Interessensgruppen nicht übertönt wird. Die Gefahr ist nämlich real, dass gerade die Touristiker den Denkfehler begehen könnten und meinen mit der schönen virusfreien Landschaft und ein paar historischen Denkmälern hätte man ja wieder genug zu bieten, um ein begehrenswertes Reiseziel zu sein. Das wäre fatal. Der Staat und das Land sollten in den Vereinen, Festivals und Konzertreihen jenes Scharnier erkennen, das es erlauben würde auch die freischaffende Szene aufzufangen. Bei abgesagten Projekten und Festivals sollte es uns dennoch erlaubt sein, Musikerinnen für nicht zustande gekommene Projekte bezahlen zu dürfen, auch sollte Konzeptarbeit anerkannt werden, die ja geleistet wurde und geleistet wird. In diesem speziellen Jahr sollten auch bei geringerem Projektumfang öffentliche Jahresförderungen ungekürzt zugesprochen werden, da wir in diesem Jahr wohl auf privatwirtschaftliches Sponsorengeld großteils verzichten müssen.
Sie leiten hierzulande den Busoni-Wettbewerb, das Festival Transart und das Bolzano Festival Bozen. Planen Sie diese Festivals ins Blaue hinein nach dem Prinzip Hoffnung?
So schön es wär – Blaues kann ich weit und breit nicht erkennen. Die Herausforderung besteht ja nicht nur alleine darin, mit dem akuten und in vielen Fällen existenzbedrohenden Einbruch umzugehen, sondern auch die Kraft zu haben, sich künftige Szenarien vorzustellen, da ich davon ausgehe, dass die Welt nach dieser Erfahrung eine andere sein wird. Der global agierende Busoni-Wettbewerb als auch die nun näher heran gerückte Gustav Mahler Akademie müssen nun einerseits noch entschlossener ein digitales Instrumentarium entwickeln und nützen und andererseits das internationale Netzwerken verstärken. Bei Transart werden wir die Fragestellung nach den Perspektiven eines Festivals und seiner Rolle in einer Gesellschaft noch zusätzlich schärfen. Jedenfalls Schotten dicht und zuwarten geht gar nicht.
Wie geht es mit dem European Union Youth Orchestra und dem Gustav Mahler Jugendorchester weiter? Schließlich sind das Ensembles, in denen junge Leute aus ganz Europa zusammenkommen.
Für alle internationalen Jugend-Musikprojekte ist der Himmel besonders schwarz gefärbt. Anstatt Kulturbotschafter zu sein, laufen sie Gefahr als Botschafter des Virus wahrgenommen zu werden. Was das EUYO aktuell mitmacht, ist sagenhaft. Zuerst mussten sie London wegen des Brexit verlassen und haben dann in Ferrara eine Heimat gefunden; aus dieser mussten sie die Flucht vor dem Virus nach Grafenegg in Österreich für das Osterprojekt antreten; bevor dies greifen konnte, hat sich der Virus bereits in Österreich breit gemacht; laut seinem Management könnte eine Absage des Osterprojekts noch als Kollateralschaden verkraftet werden; die Absage der Sommerresidenzen – auch jener in Bozen – wäre das Aus für das Orchester, falls die EU nicht entschlossen unterstützt.
Seit Anfang des Jahres sind Sie auch Intendant des Klangforum Wien. Einen schwierigeren Moment hätten Sie sich kaum aussuchen können.
Ich bin Pragmatiker. Für gewöhnlich darf man komfortabel in ein derart prestigeträchtiges Projekt einsteigen und müsste dann vielleicht irgendwann in der Zukunft zeigen, wie man imstande ist, mit besonderen Herausforderungen umzugehen. Nun ist es eben umgekehrt gekommen: heftigster Sturm bereits beim Einschiffen im Hafen und der Versuch, bald die weite, ruhige See zu erreichen. Das Klangforum Wien mit seinen Musikerinnen und Mitarbeiterinnen ist es gewissermaßen berufsmäßig gewohnt, sich dem Neuen unerschrocken zu stellen. Es wird hart, aber wo es keine Wahl gibt, stirbt die Zuversicht zuletzt.
Aktuell setzen immer mehr Konzerthäuser und Kultureinrichtungen aufs Netz und übertragen Konzerte im Netz. Schauen Sie sich solche Geisterkonzerte an?
Nein, mir fehlt schlicht die Zeit dazu und die Tonqualität meiner audiovisuellen Abspielgeräte würde den gebotenen Inhalten auch nicht entsprechen. Die Präsenz im Netz ist wichtig, aber nicht so sehr um wirklich gehört zu werden, sondern eben um gesehen zu werden.
Ihr Sohn ist auch im Klassikbetrieb. Wie erlebt er die Coronakrise?
Auch er ist betroffen und hat bereits zwei Absagen zu fixierten Konzertauftritten erhalten. Zum Glück muss er noch nicht von diesen Einkünften leben.
Interview: Heinrich Schwazer
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