Das dunkle Loch
Etwa jedes achte Paar in Südtirol ist von ungewollter Kinderlosigkeit betroffen. Die Erfolgschancen einer künstlichen Befruchtung sind begrenzt, Leidensweg, Druck und Enttäuschung groß.
Zum sechsten Mal organisiert das Rittner Haus der Familie heuer in Zusammenarbeit mit mehr als einem Dutzend Südtiroler Organisationen die MutterNacht.
Dieses Mal geht es um den unerfüllten Kinderwunsch.
Dazu gehört eine Textsammlung. Betroffene Paare sind eingeladen, ihre Erfahrungen dazu bis Ende Februar einzureichen – auch anonym. Unabhängig davon, ob eine Schwangerschaft eingetreten ist oder nicht, ob ein Kind geboren wurde oder das Paar entschieden hat, ein Kind zu adoptieren: Alle Geschichten sind willkommen und helfen, das Tabu rund um den unerfüllten Kinderwunsch aufzubrechen.
Bettina hat bereits einen Text eingereicht:
„Man fällt wieder und wieder in dieses dunkle Loch und frägt sich nur ‚warum’. Was stimmt mit meinem Körper nicht? Bin ich nicht fähig Mutter zu werden? Mutter zu sein? Aber wenn es mein größter Wunsch ist, wie kann es sein, dass ich nicht dafür bestimmt bin? Ist an mir etwas falsch? Habe ich etwas übersehen? Sollte ich zu diesem oder jenem Arzt gehen? Oder doch lieber noch zu einem Homöopathen oder Heilpraktiker? Wie viel Zeit und Geld soll ich noch für diesen Wunsch investieren? Und vor allem: wie viel kann ein Mensch noch ertragen? Wäre es am besten, alles sein zu lassen? Sollte ich mein Leben ohne Kind leben? Sollte ich meinen Wunsch Mutter zu sein aufgeben? Wenn ja, wie geht das? Wie kann man den Kopf abschalten?“
In der Öffentlichkeit wird kaum über künstliche Befruchtung gesprochen. Besonders in schwierigen Ausgangslagen müssen sich Paare auf einen langen und herausfordernden Weg zum Wunschkind einstellen. Nur bei jeder vierten befruchteten Eizelle, die in die Gebärmutter eingepflanzt wird, kommt es zur Schwangerschaft und nur in zwei Drittel dieser Fälle wird ein Kind geboren. Mit den Versprechen der modernen Medizin wächst auch die Verzweiflung jener, die alle Varianten der künstlichen Befruchtung erfolglos durchlaufen haben. Der seelische Schmerz ist enorm. „Die psychologische Belastung ist so groß, weil es sich jeden Monat so anfühlt, als würde man eine geliebte Person verlieren“, erzählt eine betroffene Frau. Geschlechtsverkehr werde Mittel zum Zweck.
Silvia schreibt in ihrem Text:
„Wie es mir geht? Wie es uns geht? Warum fragt uns niemand? Wir trauern. Für uns ist jemand gestorben. Es habt niemand gelebt, aber wir trauern so sehr. Der Körper hat sich erholt. Eine neue Hormonbehandlung kann gestartet werden. Die Stimulation verläuft planmäßig. Tägliche Pilleneinnahme und Spritzen unter die Haut am Bauch. Es schmerzt. Das Spannungsgefühl im Bauch nimmt täglich zu. Verdauungsprobleme. Die Follikelpunktion unter Vollnarkose verläuft ‚gut’. Sind die Schmerzen im Unterleib normal? Ja, danke. Die Spermienqualität ist in Ordnung. Mal schauen wies läuft. So soll ein Kind entstehen? Im sterilen Raum? Nun, mit Liebe hat es ja nicht funktioniert.“
Betroffene Frauen halten den gesellschaftlichen Druck und das als unverschämt empfundene Nachfragen nur schwer aus. Der unerfüllte Kinderwunsch bestimmt ihr Leben, frustriert, belastet und stresst. Wenn sich der Kinderwunsch erfüllt, wollen die meisten Elternpaare nicht mehr darüber sprechen. In jeder Südtiroler Schulklasse sitzt durchschnittlich ein Kind, das sein Leben der Reproduktionsmedizin verdankt und dessen Eltern einen hohen Leidensdruck erlebt haben. Viele Kinder erfahren nie, dass sie nicht auf natürlichem Weg gezeugt wurden.
Die Zeugung menschlichen Lebend gehört zum Intimsten eines Paares und soll es auch bleiben. Allerdings wollen das Haus der Familie und mehr als ein Dutzend Südtiroler Organisationen das Tabuthema aufbrechen. Sie laden betroffene Paare ein, ihre Geschichte des Hoffens und Bangens zu erzählen.
Die Hebamme Astrid Di Bella hat das Projekt MutterNacht im Auftrag des Hauses der Familie vor fünf Jahren initiiert und arbeitet auch 2020 wieder mit. Betroffene Frauen, Männer und Paare sind eingeladen, ihre Geschichte zu erzählen: „Wir möchten Menschen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, zeigen, dass es vielen ähnlich geht.“ Das gebe Halt. Es sind mehr Menschen betroffen als gemeinhin angenommen.
Von vielen Gesprächen mit betroffenen Paaren weiß Astrid Di Bella um die Belastungen. „Schreiben entlastet“, ist sie überzeugt. Zum Schreiben eingeladen sind alle Menschen, die ein unerfüllter Kinderwunsch begleitet (hat) – unabhängig davon, ob er sich erfüllt hat oder nicht. Alle Textgattungen sind willkommen.
Die Geschichten, Gedichte oder Gedankensplitter können gerne auch anonymisiert an das Haus der Familie geschickt werden: per Mail an [email protected] oder per Brief an Haus der Familie, Lichtenstern 1–7, 39054 Oberbozen/Ritten. Einsendeschluss ist Ende Februar 2020. Alle Texte werden bei der MutterNacht am 9. Mai 2020 in einem gesammelten Band der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
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Folgende Organisationen und Vereine unterstützen die MutterNacht 2020:
Katholischer Familienverband, Berufskammer der Hebammen der Provinz Bozen, treff.familie im Südtiroler Kinderdorf, Frauen helfen Frauen, Katholische Frauenbewegung, agjd – Arbeitsgemeinschaft der Jugenddienste, Familienberatungsstelle Lilith, Familienberatung fabe, Sozialgenossenschaft der Tagesmütter, eeh – Emotionelle Erste Hilfe, AIED – Associazione italiana per l’educazione demografica, Elki – Netzwerk der Eltern-Kind-Zentren Südtirols, Amt für Ehe und Familie der Diözese Bozen-Brixen, La strada – der Weg, VSLS – Berufsverband der Still- und Laktationsberaterinnen in Südtirol, Bäuerinnen im Südtiroler Bauernbund, Vke – Verein für Kinderspielplätze und Erholung, Lebenshilfe.
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