Angst
2019 war das beste Jahr der Menschheitsgeschichte. Sagen die Fakten. 2019 war eines der schlimmsten Jahre. Sagt die Angst. Doch Pessimismus lähmt nicht nur, er macht hoffnungs- und hilflos.
Von Heinrich Schwazer
In einem Kommentar zum Jahreswechsel schreibt Nicholas Kristof in der New York Times, dass 2019 das beste Jahr der Menschheitsgeschichte gewesen sei. Eine kühne Behauptung, der man spontan zu widersprechen geneigt ist, doch die Fakten sprechen eine andere Sprache. Nie, seit dem Auftauchen des modernen Menschen vor etwa 200.000 Jahren, war die Kindersterblichkeit geringer, nie hatten mehr Menschen Zugang zu Bildung und sauberem Wasser.
In den Tausenden von Generationen, die die Menschheit durchlaufen hat, war das Risiko bis zum Alter von 15 Jahren zu sterben, enorm hoch. Noch 1950 lag die Kindersterblichkeit bei 27 Prozent, heute ist sie auf 4 Prozent gefallen. Ähnliches gilt für die Armut. 1981 lebten noch mehr als 40 Prozent in extremer Armut (laut Vereinte Nationen gilt als extrem arm, wer mit weniger als 2 Dollar täglich auskommen muss), heute ist die Rate unter 10 Prozent gefallen.
Das sind immer noch zu viele, aber dass es einen Fortschritt gegeben hat, kann nicht geleugnet werden. An jedem Tag des abgelaufenen Jahres hätte eine Schlagzeile lauten können: Gestern sind erneut 170.000 Menschen aus extremer Armut befreit worden. Ähnliches gilt für Analphabetismus.
Noch vor einem halben Jahrhundert waren ein Großteil der Weltbevölkerung Analphabeten, heute können annähernd 90 Prozent der Erwachsenen lesen und schreiben. Auch auf gesellschaftlicher Ebene sind enorme Fortschritte zu verzeichnen. In Sachen Familienplanung, Multikulturalismus und Akzeptanz von Homosexualität hat sich sehr viel zum Besseren verändert.
Ja, wird man einwenden, aber was ist mit den Kriegen in Syrien, im Jemen und anderswo? Was ist mit der nuklearen Bedrohung, dem Klimawandel, den zunehmenden Naturkatastrophen, dem Aufkommen nationalistischer und populistischer Bewegungen, die unsere Demokratie in Frage stellen? Was ist mit der Ausbeutung, der modernen Sklaverei durch den Raubkapitalismus in Zeiten des Neoliberalismus, was ist mit der himmelschreienden Ungerechtigkeit in der Verteilung der Vermögen? Besaßen im Jahr 2019 nicht 0,9 Prozent der Weltbevölkerung 43,9 Prozent des weltweiten Vermögens, während 56,6 Prozent der Weltbevölkerung lediglich 1,8 Prozent gehört?
Wer seinen Kopf nicht in den Sand steckt und, wie der US-Präsident Donald Trump oder der brasilianische Präsident Bolsonero, den Klimawandel schlicht wegleugnet, wird die immensen Probleme und Herausforderungen unserer Welt nicht abstreiten. Ebenso unbestreitbar ist aber auch, dass es große Fortschritte in der Bekämpfung existenzieller Probleme gegeben hat.
Zukünftige Historiker werden das beginnende 21. Jahrhundert möglicherweise als die beiden Dekaden beschreiben, in denen die gravierendsten existenziellen Probleme wie Hunger und Analphabetismus in einem nie dagewesenen Ausmaß reduziert werden konnten. Der in Oxford lehrende Wirtschaftswissenschaftler Max Roser bringt die paradoxe Gefühlslage auf den Punkt: „Die Welt ist besser geworden, die Welt ist schrecklich, die Welt könnte viel besser sein.“
Warum ist das Jahresendgefühl dann so bang, warum öffnet das beginnende neue Jahrzehnt nicht die Fenster und lässt
frische Luft und neue Gedanken herein? Warum ist angesichts dieser positiven Entwicklungen Angst das vorherrschende Gefühl? Warum scheint die Ressource Zukunft verbraucht zu sein, warum ist Zukunft kein Versprechen mehr, wie es noch für meine Generation selbstverständlich war? Woher kommt die Angst? Kommt sie daher, dass wir eine materiell gesättigte Gesellschaft sind, die Angst um ihren Wohlstand hat? Weil in einer alternden Gesellschaft die Verteidigung des Bestehenden wichtiger ist als neue Chancen zu sehen und zu suchen?
Angst. Der Philosoph Martin Heidegger hat sie im Gefolge von Kierkegaard als die „umschattete Königin unter den Stimmungen“ bezeichnet. Angst ist von Furcht zu unterscheiden. Angst ist wesenhaft unbestimmt, der Ängstliche weiß nicht, wovor er sich ängstigt. Angst ist zersetzend, sie tendiert zur Angst vor dem Nichts und erodiert die Fundamente der Lebensfreude.
Klimawandel, Digitalisierung, Ungerechtigkeit, Flüchtlingsströme, Globalisierung – das sind Begriffe, die eines gemeinsam haben: Sie machen vielen Angst und sie führen dazu, dass sie sich abschotten, eng im Kopf werden – das gilt für Individuen wie für ganze Staaten. Anscheinend haben viele das Gefühl, die Orientierung, den Halt zu verlieren. Deren gefühlte Ängste lassen sich ganz offenbar nicht mit Fakten bekämpfen. Pessimismus aber lähmt nicht nur, er macht hoffnungs- und hilflos. Politisch profitieren davon vor allem die Rechtsparteien.
Doch es tun sich auch andere Wege jenseits der Lähmung auf. „How dare you!“ warf Greta Thunberg den Teilnehmern an der UN-Klimakonferenz im September in New York an den Kopf. Wie könnt ihr es wagen! – das sagten früher Eltern zu ihren Kindern, wenn diese allzu heftig aufbegehrten. Jetzt werfen es die Kinder den Erwachsenen vor, weil sie so passiv sind. Der Klimawandel wird von der Jugend als existenziell wahrgenommen und verlangt eine revolutionäre Antwort. Der Rollentausch ist gewöhnungsbedürftig und erklärt, wenigstens zum Teil, die heftigen und manchmal beschämenden Reaktionen auf Greta Thunberg. Plötzlich tritt die Jugend als moralische Institution auf, während sich die Alten wie verstockte Kinder in den Schmollwinkel zurückziehen und Veränderung an sich bereits als Bedrohung empfinden.
Angst ist ein schlechter Ratgeber, sagt ein englisches Sprichwort. Wer sich ihr überlässt, überlässt sich denen, vor denen wir eigentlich Angst haben sollten.
Im Übrigen ist heuer das Jahr von Ludwig van Beethoven, dessen Ode an die Freude aus der Neunten Symphonie die Europahymne ist.
Ich wünsche Ihnen ein angstfreies frohes neues Jahr.
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Kommentare (5)
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erich
Super geschrieben, wenn in Wohlstandsländer verwöhnte Jugendliche plötzlich die Welt unter gehen sehen dann ist die Frage ob nicht der Blickwinkel verschoben ist. Ich wage zu behaupten, dass sich 99% der Weltbevölkerung ein besseres Klima, sauberes Trinkwasser, geklärte Abwasser, weniger Müll und gesunde Nahrungsmittel wünschen. Diese Sensibilisierung hat bei uns auch Jahrzehnte gedauert, diese Zeit brauchen alle die nicht unseren Lebensstandart haben. Aber im Durchschnitt bis auf einige Ausnahmen wird die Welt von Jahr zu Jahr besser, dazu hat auch die „alte Umweltsau“, unsere Oma mitgeholfen.