„Extrem hohe Dunkelziffer“
Im vergangenen Jahr wurden in Südtirol mehr als 1.500 Drogensüchtige behandelt – Tendenz steigend. Wie Suchtexpertin Bettina Meraner diese Zahlen einordnet und warum Jugendliche zu illegalen Substanzen greifen.
Tageszeitung: Frau Meraner, in Südtirol wurden im Jahr 2018 insgesamt 1.546 Personen mit einer Drogensucht behandelt, das sind rund 100 mehr als im Vorjahr. Was sagen uns diese Zahlen?
Bettina Meraner (Primaria Dienst für Abhängigkeitserkrankungen Bozen): Dieser Trend ist in erster Linie positiv zu bewerten, denn das heißt, dass mehr Personen mit einer Drogensucht mit den Diensten in Kontakt kommen. Wir können anhand dieser Daten aber keine Rückschlüsse ziehen, was die Konsumsituation betrifft. Wir können allerdings beobachten – und das ist ebenfalls positiv – dass sich die Patienten nach einer kürzeren Latenzzeit mit den Diensten in Kontakt setzen. Während früher meist sieben oder acht Jahre zwischen dem Beginn eines problematischen Konsums und dem Erstkontakt mit dem Dienst vergangen sind, sprechen wir heute von einem bis zwei Jahren. Es ist auch unter den Konsumenten nicht mehr so stigmatisiert, sich Hilfe zu holen, wie es noch vor einigen Jahren war.
Und wie stark wird das Thema noch immer von der Gesellschaft stigmatisiert?
Da gibt es einen sehr großen Unterschied zwischen den Substanzen. In Südtirol finden wir eine relativ große Toleranz was Cannabinoide angeht, Opiate sind hingegen immer noch tabu. Kokain wird von vielen sehr verharmlost und daher halten es die meisten Menschen nicht für ein Problem.
Man findet in Südtirol aber nicht nur die „klassischen“ Drogen sondern auch synthetische – LSD, Crack, oder Ecstasy…
Personen, die synthetische Drogen konsumieren, kommen mit uns leider vor allem über die psychiatrischen Dienste in Kontakt, also wenn sie ein psychiatrisches Problem entwickeln, was leider vorkommen kann. Man muss immer den Kontext, auch bei den Meldungen an das Regierungskommissariat, betrachten: In diesen Meldungen geht es hauptsächlich um Substanzen, die auf der Straße konsumiert werden. Synthetische Drogen werden hingegen eher in geschlossenen Räumen oder in Diskotheken konsumiert und fallen dadurch auch nicht so stark auf. Das heißt aber nicht, dass sie nicht so verbreitet sind sondern einfach nur, dass sie nicht so auffallen.
30 Prozent der Drogendelikte wurden laut Regierungskommissariat von Personen unter 25 Jahren begangen. Beunruhigt Sie diese Entwicklung?
Das zeigt uns einerseits, dass die Ordnungshüter sensibler für diese Gruppierung sind. Andererseits zeigt das aber auch, dass das Unrechtsbewusstsein oft fehlt. Jugendliche sind risikobereiter als Erwachsene, aber sowohl bei den Konsumenten als auch bei den Eltern fehlt oft das Wissen darüber, was die Weitergabe von illegalen Substanzen bedeutet. Die ganze Diskussion um die Legalisierung von Cannabis führt zudem dazu, dass viele meinen, dass das, was sie machen, eh schon so gut wie legal ist und eigentlich nicht viel passieren kann – da fehlt es wirklich an Information und Aufklärung.
Unterschätzen Jugendliche die Folgen eines Drogenkonsums?
Das ist zum Teil auf diese Diskussion um die Liberalisierung und auf das therapeutische Cannabis zurückzuführen. Die Leute vermischen irgendwann einfach ganz viele Ebenen und denken, dass ein Konsum harmlos ist. Aber für Jugendliche ist keine psychoaktive Substanz harmlos. Das Risiko, Schaden zu nehmen oder eine Abhängigkeit zu entwickeln – auch eine psychologische Abhängigkeit – ist im Jugendalter viel größer als bei einem Erwachsenen. Jugendliche haben zudem weniger Frustrationstoleranz als Erwachsene und wenn sie mit Drogen die Erfahrung machen, dass sie innerhalb kürzester Zeit ihren Gemütszustand verändern können, lernen sie auch nicht diesen Frust auszuhalten und werden vermehrt zu diesen Substanzen greifen, weil sie auch keine anderen Lösungen kennen. Abgesehen davon, dass im Jugendalter die Hirnreifung noch nicht abgeschlossen und das Gehirn auch manipulierbarer durch psychoaktive Substanzen ist – so können sich Verhaltensweisen einschleichen, die später ganz schwer verändert werden können.
Warum greifen Jugendliche zu illegalen Substanzen?
Neugierde und Gruppenzwang sind ein Einstieg in jede Substanz – auch schon beim Nikotin kann man dieses Phänomen beobachten. Sicher stehen die Jugendlichen auch unter Leistungsdruck, aber den Jugendlichen fehlen vielfach Wege oder Strategien, mit diesem Druck umzugehen. Abgesehen von Aufklärung über diese Substanzen wäre es in meinen Augen deswegen auch wichtig, dass Jugendliche Kompetenzen erlernen, was den Umgang mit Stress oder negativen Gefühlen betrifft.
Frau Meraner, was sagt uns die Anzahl der behandelten Drogenabhängigen über den Drogenkonsum in Südtirol?
Die Tatsache, dass vermehrt Personen aufgrund eines Drogenkonsums mit dem Dienst in Kontakt kommen, ist positiv zu bewerten, sagt aber nichts über den effektiven Konsum in Südtirol aus – da haben wir eine extrem hohe Dunkelziffer.
Interview: Lisi Lang
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