„Sette longe Pimpr“
Dietmar Gamper hat zum 100. Geburtstag von Südtirol ein Stück geschrieben und es in der Brixner Dekadenz selbst inszeniert: 100 Jahre Südtirol oder: Der Geburtstag einer Greisin.
von Heinrich Schwazer
Diese Muaterle wird einfach nicht älter. Seit 1919 muss es wie ein Zombie jedes volle Jahrzehnt von Neuem seinen 100. Geburtstag feiern und jedes Mal die Geschichte vom vermeintlichen Urahn Andreas Hofer erzählen. Von dem sie allerdings nicht viel mehr weiß, als dass er einen Bart und „setten longn Pimpr ghob hot“.
Den Rest ihrer Erinnerungen hat sich Alzheimer geschnappt.
Aber wenn es darauf ankommt, ist dieses Mamele ein Drachen und gschnappiges Weibsbild vor dem Herrn. Es kann reden wie eine Puffmutti, beim Jodeln den Trachtenrock lüpfen, den Bub bei den Haaren tschippeln, ihr Gebiss landet schon mal im Bierkrug und wenn der SS-Hauptmann seine Kappe auf den Tisch legt, speibt sie ihm diese mit Milchmus voll. Als sie am Schluss von einem Fernsehmoderator gefragt wird, was das wichtigste Ereignis ihres Lebens war, kommt die Antwort wie aus dem Wilderergewehr geschossen: Als der Nachbarbauer derschossen wurde!
Das Mütterlein vom Südtiroler Hof, dargestellt von einer Eva Kuen in Bestform, ist das Zentrum in Dietmar Gampers Stück „100 Jahre Südtirol oder: Der Geburtstag einer Greisin“, das vorgestern in der Brixner Dekadenz uraufgeführt wurde. Es ist die Familiensaga einer schrecklich netten Familie und zugleich der Versuch „100 Jahre Südtirol“ an einem Theaterabend zu erzählen. Ein episches Unterfangen, beginnend mit der Düsternis des Ersten Weltkrieges und dem Übergang zu Italien, endend im Heute mit dem neuen Vaterunser der Geschäftstüchtigkeit.
Gamper, der unabhängigste Geist unter den Südtiroler Kabarettisten, betreibt inbrünstige Mythenplünderung und bringt eine Typengalerie wie aus dem Handbuch für Sarkasmus auf die Bühne. Sein Südtirol ist ein Land, eingeklemmt zwischen der Vergangenheit, die nie vergeht, und einer Zukunft, die den herbeigerufenen Geldgeistern wie eine Horde Zombies folgt. Das Stück spielt in der Wirtsstube des Südtiroler Hofes, wo sich ein kriegstreibender Pfarrer, ein polternder Wirt, ein verschlagener Nachbarsbauer, sein Tunichtgut von Sohn, das Muaterle, der Knecht, eine fesche Kellnerin und ein Kriegsinvalide um die Bierkrüge und Schnapsflaschen tummeln.
Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des Knechtes, weil „die lebendigste Geschichte ist die, die von einem erzählt wir, der sie selbst erlebt hat, weil er dabei gewesen ist.“ Kriege ziehen vorbei, Diktaturen kommen und gehen, die Option zerreißt die bleierne Decke der Herz-Jesu-Seligkeit, zwei Männer rangeln um eine Frau, das Fernsehen zieht ins Land, die Unrechtsgrenze grummelt im Untergrund, ein Carabiniere wird erschossen, im Misthaufen vergraben und geistert danach durch die Hütte, die Sümpfe der braunen Vergangenheit dampfen noch vor sich hin, die Bumser werden zu Helden stilisiert, das Paket wird geschnürt, der Tourismus ackert das Land um – doch auf dem Südtiroler Hof geht es trotzt angeborener Wendehalsigkeit stur wie in einer Litanei weiter. Hauptsache, das Marterle gegen die „Walschen und die Stadtlerfockn“ steht fest gemauert in der Heimatscholle.
Gamper gelingt eine aberwitzige Parodie auf Bergbauern-Dramen und aufgeblähtem Verwurzelungskitsch, wobei der Grat zwischen Heimatgewäsch und faschistoid-nazistischen Ausfällen schneidend dünn ist. Das ist tiefbohrende Satire, zugleich aber auch Volkstheater im allerbesten Sinn des Wortes. Überzeugend ist vor allem das Figurenensemble, das zwischen überschminkten Masken- und Witzfiguren changiert – damit uns die Personage nicht allzu ähnlich sieht, aber doch jederzeit erkennbar ist.
Eva Kuen ist als mümmelndes Muaterle in ihrem Tiroler Gothic-Look zum Niederknien, Marlies Untersteiner wirbelt als fesche Kellnerin hüftschwingend zwischen zwei Mannsbildern über die Bühne.
Georg Kaser spielt überzeugend einen feisten Bauernschädel, der im blinden Führergehorsam schreckliche Dinge getan hat und nach dem Krieg mehr schleimt, als die Volkspartei erlaubt. Freddy Redavid spielt den Tunichtgut, der vom Faschisten zum Nazisten bis zum Bumser mutiert, Dietmar Gamper selbst ist in der Rolle des Kriegsinvaliden, des SS-Hauptmanns und des bayrischen Touristen zu sehen, Josef Lanz spielt einen Wirt, der dem Muaterle Mus einschöpft, Andreas Zingerle spielt den Pfarrer und den Carabiniere und Heinz Köfler stellt den Knecht mit deftigem Vinschger Zungeneinschlag dar, der vom Sympathieträger zum aufschneiderischen Anzugträger wird. König Mamon hat sie alle am Krawattel, auch das Mamele.
Gamper inszeniert sein Stück hinter einem Gazevorhang, der auch als Projektionsfläche für erzählerische Zwischenschnitte dient und mit einem düsteren Begleitsound von Simon Gamper & Philipp Schwarz. Die Aufführung ist mit gut drei Stunden deutlich zu lang. Was immer dann passiert, wenn der Autor auch der Regisseur ist. Aber 100 Jahre sind halt 100 Jahre.
Weitere Aufführungen unter www.dekadenz.it.
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