Die Sexlüge
Die Meraner Sexualtherapeutin Miriam Pobitzer hat ein Buch über unsere sexuell erkrankte Gesellschaft geschrieben. Ein Gespräch über die von medialen Bildern gesteuerte Sexualität, die dramatisch abnehmende Lust am Sex und warum nur Liebe die Lust heilen kann.
Tageszeitung: Frau Pobitzer, Sie sind Sexualtherapeutin in Meran. Wie lustvoll oder lustlos geht es in den Südtiroler Betten zu?
Miriam Pobitzer: Nicht anders als in anderen hochzivilisierten Ländern.
Der Titel Ihres Buches „Die Sexlüge. Mehr Liebe“ suggeriert, dass es ein Problem mit dem Sex gibt.
Der Titel soll ausdrücken, dass wir beim Sex einer ganzen Menge an Bildern und Klischees folgen, anstatt das zu tun, was wir wirklich wollen. In Sachen Sex sind wir uns entfremdet.
Sie schreiben, dass wir in einer sexuell erkrankten Gesellschaft leben. Was heißt das?
Unsere Vorstellungen von Sex sind vollkommen von medialen Bildern überlagert, die uns vermitteln, was Sex ist und wie „man“ Sex zu machen hat.
Nämlich?
Das mediale Bild vom Sex fokussiert alles auf die Genitalien und den Orgasmus durch Penetration. Sex bedeutet „Penis in Scheide“, der Körper wird auf ein Sensorium reduziert, das nur mehr anzugeben hat, ob die Erregung gut genug ist, ob der Orgasmus endlich kommt, ob sie sagt, dass der Penis groß genug ist, ob er mit dem Busen und dem Gestöhne zufrieden ist. Das heißt: Wir leben nicht mehr. Wir produzieren – besonders beim Sex. Stark beeinflusst sind wir auch vom medizinischen Blickpunkt, der den Körper als Zusammenwirken der Organe betrachtet. Dazu kommt die Erziehung, die uns eintrichtert, dass wir gehorchen und entsprechen müssen, damit wir gut sind. Und ganz wichtig ist der ökonomische Blickpunkt, der Sex auf Leistung und Erfolg reduziert. Es ist dieses ganze Paket von Ursachen, das unser Bild vom Sex so stark prägt, dass unser Liebespotenzial durch Bilder ersetzt wird. Wer sich von den Medien abschaut, wie Sex zu sein hat, um als „normal“ zu gelten, kann seinen Körper nicht frei erleben.
Nach der sexuellen Revolution der 60er Jahre hatte man doch den Eindruck, dass wir sexuell jetzt halbwegs frei sind.
Eine Erfahrung meiner therapeutischen Praxis ist, dass jeder Mann und jede Frau, unabhängig von Gesellschaftsschicht und Wohnort, früher oder später in seinem Leben ein Problem mit der Sexualität hat. Das ist normal. Sie entwickelt und verändert sich ständig. Wir sind nicht ein Leben 25 und frisch und knackig, unsere Hormone sind nicht dauernd aufgeputscht. Ein kritischer Moment für Paare ist häufig, wenn die Kinder aus dem Haus sind. Dann stehen sie vor der Frage: Was tun wir jetzt miteinander? Aber auch beruflicher Stress und die Last des langweiligen Alltags bereiten beachtliche Probleme.
Wir leben in einer freizügigen Gesellschaft, sind umgeben von durchsexualisierten Körpern, die Sünde hat ihre Macht verloren, jedes Bedürfnis scheint nur einen Mausklick entfernt zu sein. Und trotzdem haben wir enorme Probleme mit dem Sex. Wie passt das zusammen?
Nicht trotzdem, sondern weil. Weil wir meinen, dass wir in einer durchsexualisierten Gesellschaft leben und alles mit einem Mausklick erreichbar scheint, weil wir glauben, dass wir uns mit einem Vibrator oder mit einer Prostituierten zum Orgasmus bringen können, geht es uns sexuell schlecht. Wer das tut, reduziert sich auf die paar Zentimeter seiner sexuellen Organe. Natürlich kann man sich von Sexpraktik zu Sexpraktik hangeln, den G-Punkt suchen, andere Stellungen ausprobieren, aber nach dem fünften Mal ist man davon auch schon wieder stuff, weil es dabei letztlich immer nur ums Funktionieren geht.
Und nicht um Liebe.
Genau. Man kann Sex genital haben, man kann Sex im Kopf haben oder endlich das Herz auftun, und mich und meinen Partner als Mensch sehen. Dann wird Sex bunt, dann ist jeder Tag anders.
Die Lehre aus all den Quickies und One Night-Stands lautet: Sex ohne Liebe geht immer schief.
Auf die Dauer ja. Warum kommen Besucher von Swingerclubs zu mir in die Praxis? Weil es halt doch nicht das Gelbe vom Ei ist.
Laut einer neuen Studie nimmt die Lust am Sex generell dramatisch ab, vor allem bei den jüngsten Generationen. Können Sie das aus Ihrer Praxis bestätigen?
Absolut. Jeder Gynäkologe und jeder Urologe wird ihnen bestätigen, dass Frauen wie Männer wenig Lust auf Sex haben. Jugendliche sind natürlich ganz besonders betroffen, weil sie sich von medialen Bildern und Filmen geradezu ernähren. Es ist ein Faktum, dass 20jährige Buben öfter Viagra verschrieben bekommen als über 60-Jährige. Warum? Weil sie meinen, dass das ganze Geheimnis des Sex im steifen Glied steckt. Die Mädchen ihrerseits machen auf geil und spielen mit, obwohl es ihnen nur weh tut.
Das immer steife Pornomännchen und das immer bereite Pornoweibchen sind das Idealbild der jungen Generation.
Ja, und genau darin besteht die Sexlüge. Porno ist Kommerz, ist Geschäft, ist Manipulation. Da wird den jungen Leuten vorgegaukelt, dass es sie glücklich macht, wenn sie es so wie die Pornostars machen. Für viele ist diese Überreizung durch Pornokonsum Alltag, in der Sexualität auf das Rein und Raus von einem Riesenpenis in eine aufgespreizte Vagina reduziert wird. Diese optischen Reize sind sehr stark und müssen laufend und mit allen (un?)möglichen Zutaten verstärkt werden. Nach vollbrachtem Kraftakt stellt der Mann dann die Frage aller Fragen: „War ich gut?“ Umgekehrt erzählen mir Frauen, dass sie das nicht bieten können, was er sich vorstellt und stellen sie sich selbst infrage. Gerade Frauen sind besonders anfällig für die Angst, den anderen zu enttäuschen, seinen unterschwelligen oder groben Vorwürfen ausgesetzt zu sein. Jugendliche, aber auch Erwachsene, erhalten durch die Pornoindustrie ein völlig falsches Bild von Sexualität, was zur Folge haben kann, dass sie sich bei ihren eigenen Erfahrungen wie Pornodarsteller verhalten, Szenen nachspielen und bald merken, dass sie dem nicht gewachsen sind. Dazu kommt, dass gerade Jugendliche besonders empfänglich für körperliche Idealvorstellungen von Modells und Schauspielern sind, diese aber nie erreichen können. Wenn Diäten, Fitnessstudio und Kosmetikprodukte nicht reichen, gibt’s immer noch die Schönheits-OP.
Kommen junge Leute zu Ihnen in die Praxis, um Rat zu suchen?
Ja, weil sie diesen enormen Leistungsdruck sehr genau spüren. Von den Zeiten der sexuellen Revolution, als über Sex und freie Liebe sehr viel geredet und sehr spielerisch damit umgegangen wurde, sind wir mittlerweile weit entfernt. Wir haben ganz viel Kreativität verloren seither. Mit Aids ist Sexualität plötzlich zu etwas potentiell Tödlichem geworden. Das und Viagra haben den Umgang mit der Sexualität fundamental verändert.
Die digitalen Medien sind zum untrennbaren Teil unseres Lebens geworden. Was bedeuten sie für den Sex? Vereinzeln wir wirklich, wie oft behauptet wird, in digitalen Blasen?
Jeder Kommunikationsforscher weiß, dass mehr als 90 Prozent unserer Kommunikation nonverbal abläuft. Gesten, Minenspiel, Körpersprache, Geruch bilden den Hauptteil, Worte machen nur 5 Prozent aus. Wenn ich eine SMS oder eine Whatsup-Nachricht schreibe, reduziert sich das noch weiter, sodass man im Vergleich zu einem persönlichen Gespräch von Angesicht zu Angesicht auf einem Nullkommairgendwas Niveau kommuniziert. Kommunikation auf digitalem Niveau macht uns arm. Statt uns anzusehen und miteinander zu reden, tippen wir Wörter auf ein Display, verschicken Bildchen und messen unser Selbstwertgefühl an den Likes. Welche Auswirkungen diese Geräte auf unsere Sexualität haben, kann man in fast jeder Beziehung beobachten. Viele Menschen beschäftigen sich lieber mit ihren Geräten als mit ihrem Partner, und beide fragen sich dann, warum sie miteinander keinen guten Sex mehr haben.
Die Heilung für sexuelle Funktionsstörungen, frustrierte Lebensentwürfe und enttäuschte Partnerschaften wäre Liebe. In Ihrem Buch schreiben Sie: „Ich liebe dich“ ist ein reizvoller, aber sehr gefährlicher Satz, denn er nimmt der Liebe ihre Selbstbestimmung. Was meinen Sie damit?
Wenn jemand sagt „Ich liebe“ drückt er damit seine Fähigkeit zu lieben aus. Problematisch wird es, wenn er sagt: „Ich liebe dich“, denn damit ist gesagt: Ich kann nur zielgerichtet lieben, nämlich dich. Die Liebe ist unabhängig vom anderen, wir können sie jemandem schenken, aber zuallererst muss sie in uns sein, für uns selbst. Wenn sich ein bestimmter Mensch von mir geliebt fühlt, habe ich einfach Glück gehabt, dass die Resonanz da ist.
Ist es einfach Glück, den richtigen Menschen zu finden?
Das ist sehr individuell und lässt sich nicht verallgemeinern. Sicher ist, wir suchen immer nach Spiegeln von uns selbst. Wenn jemand sich nicht mag, unter Minderwertigkeitskomplexen leidet, und sich als wertlos betrachtet, findet er entweder einen Partner, der genauso gestrickt ist oder jemand, der einen total ausnutzt. Umgekehrt ist es genauso: Wer sich für einen Oberschlauen hält, findet entweder einen Partner, der ihn anbetet oder sich selbst für einen Oberschlauer hält. Wir finden in allen unseren Beziehungen unsere Entsprechungen, entweder gegensätzlicher oder homogener Art, was auf die Dauer meist nicht einfach auszuhalten ist – es ist entweder zu fad oder zu aufreibend.
Wie kommt man aus solchen Prägungen, die meist bis in die Kindheit zurückreichen, heraus?
Durch Arbeit an sich. Wer sein Pech, niemanden zu finden, zum Glaubenssatz erhebt, wird niemand finden, weil er diesen Glauben gegen sich selbst anwendet nach dem Muster: Ich bin so schlecht oder so hässlich, dass ich niemand finden kann. An diesen unbewussten Mustern muss und kann man arbeiten. Es bringt gar nichts, die Schuld daran jemand anderem zu geben. Damit verhindere ich nur, dass ich mich verändere.
In Zeiten von Dating-Portalen und Seitensprung-Apps ist der nächste Liebhaber oder die nächste Geliebte gleich um die Ecke. Sie schreiben in Ihrem Buch, dass jedes Paar untreu ist: in Gedanken, Worten oder Taten. Sind wir unfähig, monogam zu leben?
Ich bin davon überzeugt und meine Erfahrung als Therapeutin bestätigt es mir, dass niemand ein Eheleben lang treu ist. Treue ist ein Trugbild. Es genügt, dass jemand in Gedanken fremdgeht. Niemand fühlt sich wohl, wenn er weiß, dass der andere beim Sex an jemand anderen denkt. Das wichtigste ist Ehrlichkeit, denn wenn Untreue, auch gedankliche, ein Tabu ist, wird ein ungeheurer Druck aufgebaut. Wenn ein Paar sich hingegen auch etwas zugesteht, wird viel Spannung herausgenommen. Genau das ist ja die Lüge. Wir wollen ein Bild von Treue aufrechterhalten, das letztlich eine Illusion ist. Mit unbedingter Treue tut man sich nichts Gutes.
In Ihrem Buch berichten Sie auch von drastischen Missbrauchsfällen, etwa von Seiten eines Pfarrers an einem jungen Mädchen, wobei die Eltern zugeschaut haben. Der Pfarrer hat dem Mädchen unter den Pullover gegriffen und seine Brüste angefasst mit der Aussage: „Das ist eine Marienanbetung, die ich da mache, nicht etwas so Verwerfliches, wie die Buben das tun!“ Die Frau hat in Ihrer Praxis gesagt: „Ich möchte von Herzen gern „pädophiles Arschloch“ auf seinen Grabstein schreiben. Wirkt Erzählen befreiend von solchen traumatischen Erlebnissen?
Befreien können wir uns, wenn wir ehrlich sind. Ein Gefühl benennen und auch ausleben zu dürfen, kann befreiend wirken. Auch wenn es vielleicht keine Heilung bringt, es bekommt durch das Aussprechen eine Wirklichkeit. Diese Frau ist zur Kurie gegangen und hat ihre Geschichte erzählt, sie hat sich praktisch nackt gemacht. Der Täter hat alles abgestritten und ist weiterhin im Amt geblieben. Damit hat man sie ein zweites Mal zum wehrlosen Opfer gemacht. Es war für sie ausreichend es auszusprechen. Die Aktion, den Grabstein zu beschmieren, hätte wohl nichts außer Sensationslust geschürt.
Den ganzen Kompliziertheiten zum Trotz ist Sex doch eigentlich einfach.
Im Grunde ist Sex etwas sehr Einfaches: Unser Körper zeigt uns, wie „es“ geht. Wir brauchen die Gefühle Freiheit, Wohlbefinden und Genuss für Orgasmus und Lust, er zeigt uns dann ganz klar, was stimmig ist.
Sind wir nicht mehr imstande, unseren Körpern zu glauben?
Wir haben den Kontakt zu unserem Körperempfinden verloren. Die Liebe ist eine Qualität, die dann kommt , wenn ich entspannt und bereit bin. Der Kopf darf frei von Vorstellungen, Bildern, Zielen und Urteilen sein, und das Instrument dazu ist mein Körper. Es ist gut, wenn wir das, was dann entsteht, nicht beschreiben können. Damit bleibt der Zauber der Liebe heil.
Interview: Heinrich Schwazer
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Kommentare (30)
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george
Wie verwaschen ihr in solchen Dingen doch schreibt! Ihr (jedenfalls die meisten hier) scheint mir darin recht verklemmt zu sein.