Der Eis-Philosoph
Der 58-jährige Paolo Coletto von der „Officina del Gelo Avalon“, der Eis-Werkstatt, über seine Leidenschaft für das Eismachen, seine ausgewählten Zutaten und die Suche nach seinem Guru.
Tageszeitung: Herr Coletto, Sie sind seit 36 Jahren leidenschaftlicher Eismacher. Was hat Sie damals dazu gebracht, sich der Eisherstellung zu widmen?
Paolo Coletto: Meine Eltern hatten 1950 die Bar Moretti übernommen – auch ich half mit. Meine Mutter stammte aus Cortina D’Ampezzo – einer Gegend, in der das Eismachen Tradition hat – und besaß daher Eis-Rezepte für ein paar Sorten, die sie damals auch in der Bar Moretti anbot. Es kam so, dass ich mich für keine Fakultät an einer Universität interessierte. Mit 21 Jahren habe ich herausgefunden, dass die aktuelle Avalon-Immobilie zum Verkauf stand und habe deshalb meine Eltern dazu gedrängt, sie zu kaufen. Es war ein starker Schub in Richtung dieser Entscheidung, Eis herzustellen. Ich habe weder viel darüber nachgedacht, noch als Kind davon geträumt, Eismacher zu werden. Es hat sich einfach so gefügt und so ergeben.
Wie gehen Sie beim Eismachen vor?
Die Idee damals war es, das, was man an anderen Orten unter hausgemachtem Eis versteht, zu entrahmen. Ein 100 Prozent hausgemachtes Eis ist bei mir ein Muss. Das heißt dann ohne Konservierungsmittel, ohne künstliche Aromen, ohne Färbungsmittel und ohne Milchpulver. Ich bin zwar seit 36 Jahren Handwerksmeister im Eismachen, halte mich aber vielmehr für einen Lehrling – ich lerne immer etwas dazu. Dabei habe ich nicht wirklich aus Büchern gelernt: Damals habe ich mit sechs Rezepten von meiner Mutter angefangen. Das war noch die alte Schule, als man in den Eisdielen nur so sechs bis sieben Sorten anbot. Angesichts der industriellen Eisproduktion, beschloss ich alles zu vergessen, was in den Büchern steht, um einen persönlichen Weg zu finden.
Was sind die Grundzutaten für jedes Eis? Wie wählen Sie Ihre Zutaten aus und woher beziehen Sie diese?
Die Grundzutaten sind Milch, Sahne, Eier und Früchte. Wir haben Glück, in einer so wundervollen Region zu leben. Wir haben hier wirklich sehr viele Leute, die mit sehr viel Leidenschaft arbeiten. Die Milch beziehe ich seit Jahren schon von den Sennereien aus dem Hochpustertal, weil ich weiß, dass es wirklich Heumilch ist. Ich frage bei meinen Produzenten immer nach und freunde mich auch mit vielen von ihnen an. Als wirkliche Eier sehe ich nur jene aus biologischer Haltung an. Ich bekomme die Bio-Eier seit über 20 Jahren aus Aldein und kenne den Produzenten persönlich. Was die anderen Zutaten angeht: Es geht oft um Kilometer null. Das ist eine gute Einstellung, die ich auch umsetze, aber wenn es etwa um Kakao, Kaffee oder Mangos geht, ist das unmöglich. Die Mangos kommen bei mir aus Pakistan, die Haselnüsse aus dem Piemont, die Pistazien aus Bronte, der Kaffee aus Jamaika und der Kakao aus den Tropen. Weltweit wähle ich die besten Produkte aus.
Wie kreieren Sie neue Sorten?
Es ist eine persönliche Suche. Wenn die Sorte wirklich neu ist, dann entsteht sie wie ein Gedicht. Eigentlich kommt das Neue aus dem Nichts. Wenn ich in meinem Labor arbeite, befinde ich mich in einem meditativen Zustand – im Hier und Jetzt. Man könnte sagen: Von März bis November bin ich Eis. Denn es gibt keinen Unterschied zwischen dem, was ich bin, und dem, was ich tue – das ist Karma-Yoga, angewandt auf die Arbeit.
Ihren Betrieb bezeichnen Sie nicht als Eisdiele, sondern als Eis-Werkstatt. Warum? Wie sind Sie auf den Namen Avalon gekommen?
In der sogenannten handwerklichen Eismacherei fehlt seit Jahrzehnten die Definition für hausgemachtes Eis. Deshalb ist es nicht geregelt, was ein handwerkliches Eis ausmacht und fast jede Eisdiele kann sich „artigianale“ nennen. Deshalb änderte ich den Namen in „Officina del Gelo“ um, also Eis-Werkstatt. Eine Werkstatt ist per Definition ein mechanisierter Ort, an dem man mit Maschinen Änderungen durchführt – das passte sehr gut zu meiner Denkweise: Ich transformiere etwas mit bzw. durch Kälte. Dieser Name ist zusammen mit dem Logo ein registriertes Markenzeichen und ein Zeichen für Einzigartigkeit: Wir produzieren hausgemachtes Eis im ursprünglichen Sinne, bevor der Begriff seine Bedeutung verlor. Der Name Avalon stammt aus einer Fernsehserie über eine Parallelwelt mit Naturgeistern aus meinen Kindheitsjahren. Mein Eis-Labor liegt unter der Erde und hat keine Fenster. Sobald ich eintrete, ist es, als würde ich eine andere Dimension betreten.
Sie wurden als Eis-Guru bezeichnet. Was hat es damit auf sich?
Ich war schon als kleines Kind interessiert daran, herauszufinden, was jenseits unserer Sinne liegt. Deshalb war ich auch fast zwei Jahre lang in einem katholischen Kloster. Vor zwölf Jahren hatte ich eine Krise: Ich war sehr wütend auf Gott, denn irgendetwas fehlte mir. Daher bin ich kurzerhand nach Indien gereist, um meinen eigenen Guru zu finden. In Bombay angekommen, bin ich zehn Tage lang umhergereist, in der Hoffnung, den Guru zu finden. Nichts geschah. Also bin ich nach Coimbator gereist. Dort las ich abends Zeitschriften und entdeckte schockiert den Guru Sadhguru Jaggi Vasudev. Ich suchte dann seinen Tempel auf, wo ich in der Meditation unterrichtet wurde, und hoffte auch, den Guru zu treffen. Er hatte zufällig einen Vortrag im Hotel eingeplant, in dem ich unterkommen sollte. Also nahm ich teil. Sobald ich ihn erblickt hatte, stürmte ich auf ihn zu und umarmte ihn. Er sagte nur: „Ich habe schon lange auf dich gewartet.“ Seitdem reise ich jeden Winter nach Indien zu meinem Guru. In dieser Zeit vergesse ich die Eisdiele vollkommen.
Auf welche Eissorte sind Sie besonders stolz? Welche ist am beliebtesten?
Ich bin auf alle Sorten stolz und jede hat eine Geschichte. Eine besonders beliebte Sorte heißt „Persia“. Eine Frau aus Teheran – sie nannte sich Perserin – veranlasste mich, die Sorte zu kreieren. Sie ließ mich Eis mit Safran kosten und ich sah meine Kreation schon vor mir: Milcheis mit bulgarischem Rosenwasser, überzogen mit einem Safran-Kastanien-Gel und Pistazienbröckchen. Eine Symphonie des Geschmacks.
Interview: Julian Righetti
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