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„Wie Auto ohne Bremsen“

Elena Cattaneo

Die renommierte Pharmakologin und Senatorin auf Lebenszeit, Elena Cattaneo, verteidigt im TAGESZEITUNG-Interview das neue Impfgesetz. Sie erklärt: „Die Massenimpfungen haben allein in der westlichen Welt den Tod von 500 Millionen Menschen verhindert.”

Tageszeitung: Frau Professor Cattaneo, das neue Impfgesetz von Gesundheitsministerin Beatrice Lorenzin, mit dem zehn verpflichtende Impfungen eingeführt werden, hat in Südtirol einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Die Impfgegner werfen der Regierung vor, damit die Entscheidungsfreiheit der Eltern zu beschränken. Inwieweit ist die Entscheidungsfreiheit mit einer sanitären Notwendigkeit vereinbar?

Elena Cattaneo: Südtirol mit seinem hohen Lebensstandard weist leider auch italienweit die niedrigste Durchimpfungsrate auf, vor allem bei den Pflichtimpfungen. Es ist fast so, als würde Südtirol die medizinischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte abstreiten. Die Sorgen der Bürger müssen von diesen Zahlen ausgehen, noch bevor sie sich mit dem neuen Gesetz befassen. Bei der Debatte über die Impfungen geht es nicht um die Verteidigung von persönlichen Freiheiten, sondern vielmehr um unsere soziale Verantwortung. Wenn wir hier die Entscheidungsfreiheit über alles andere stellen würden, dann wäre das so, als ob man es jedem freistellt, beim eigenen Auto die Bremse zu entfernen. Dann könnte man genauso gut behaupten, dass man die Bremsen gar nicht brauche, weil sie nicht wirksam seien. Man könne auch ohne Bremse jedem Hindernis ausweichen oder, wenn nötig, auch mit den eigenen Füßen das Auto zum Stehen bringen. Ich will damit sagen: Man kann sich nicht auf die Freiheit berufen, wenn man mit der eigenen Entscheidung das Leben der anderen aufs Spiel setzt.

Sie sind Wissenschaftlerin. Hätten Sie als Gesundheitsministerin auch die Impfpflicht eingeführt?

Heute ja. Kurzfristig gib es keinen anderen Weg als jenen, den die Regierung eingeschlagen hat. Es ist sicherlich eine Abkürzung, eine zeitliche Abhilfe, aber es ist heute der schnellste und billigste Weg, damit die Durchimpfungsrate nicht weiter rückläufig ist. Es ist eine Tatsache, dass wir die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlene Sicherheitsschwelle der Impfungen, die bei den Masern zum Beispiel bei 95 Prozent liegt, immer weiter unterschreiten. Wir können nicht untätig bleiben, denn dadurch würden wir unsere eigenen und die anderen Kinder den tödlichen Risiken aussetzen, vor allem die Kinder im vorimpffähigen Alter und die Kinder, die aufgrund einer Erkrankung des Immunsystems oder eines Tumors nicht geimpft werden können. Gleichzeitig muss man aber auch im Bereich der Kommunikation handeln, damit in der Gesellschaft das Gefühl reift, sich freiwillig impfen zu lassen.

Welche sind, vom medizinwissenschaftlichen Standpunkt aus, jene Impfungen, die für die Kinder unverzichtbar sind?

Die Tatsache, dass man damit die Bevölkerung von der größtmöglichen Zahl an gefährlichen Krankheiten schützen kann, müsste dazu führen, dass alle heute verfügbaren Impfimstrumente so weit wie möglich verbreitet und zugänglich werden. Die Gutachten, die die Gesundheitsbehörden in den Senatskommissionen abgegeben haben, waren sehr nützlich, weil sie die Zweifel der meisten Kollegen beseitigen konnten. In diesem Zusammenhang möchte ich unterstreichen, dass die Medizin in den vergangenen 20 Jahren neue Ziele erreichen konnte, was die Reduzierung der Antigen-Stimulationen (Bildung von Stoffen, an die sich Anitkörper binden können) von allen Impfstoffen betrifft. Diese wurden von über 3.000 auf weniger als 100 gesenkt. Die Anzahl von Immunstimulationen ist mittlerweile niedriger als die Anzahl der saisonalen Infektionen, von denen die Schulkinder regelmäßig betroffen sind. Wir wissen weiters, welche Impfstoffe gleichzeitig verabreicht werden sollen und welche nicht, wie zum Beispiel die Impfstoffe gegen Meningokokken B und C. Das heißt: Auch wenn es vom wissenschaftlichen Standpunkt aus wünschenswert wäre, dass diese beiden Impfstoffe im Impfprogramm des Ministeriums als verpflichtend angegeben werden, wie es ursprünglich auch der Fall war, kann ich die Entscheidung der Kommission, die auch von der Obersten Gesundheitsbehörde ISS mitgetragen wird, nachvollziehen. Diese Entscheidung sieht vor, die Impfungen gegen Meningokokken von verpflichtend auf strengstens empfohlen umzuwandeln, um auf diese Weise die Anwendung des Gesetzes seitens der Lokalen Sanitätseinheit ASL zu erleichtern. Dadurch wird die Anzahl der Impfbesuche, inklusive der Nachimpfungen, von neun auf vier reduziert.

Die Impfgegner warnen vor Kollateralschäden, denen die Kinder durch die Impfungen ausgesetzt werden. Rechtfertigen diese Schäden, sofern es sie gibt, die Nichtimpfung?

Wenn man von Schäden redet, dann denken wir zuerst an den gravierendsten Schaden, nämlich den Tod. Niemand ist wegen einer Impfung gestorben. Dafür sind viele an Infektoinskrankheiten gestorben, gegen die bereits Impfstoffe entwickelt wurden. Was die Nebenwirkungen betrifft, muss man sagen: Alle Arzneimittel und damit auch alle Impfstoffe können Nebenwirkungen hervorrufen. Bei den Impfungen handelt es sich um Gelenkschmerzen oder Juckreiz, die in einer Million von Fällen einmal auftauchen und einen zeitweiligen Krankenhausaufhalt zur Folge haben. Wenn wir diese Nebenwirkungen mit jenen von Aspirin vergleichen, auch wenn Aspirin 1.500 Mal so häufig verwendet wird wie die Impfstoffe, können wir eines feststellen: Die Impfstoffe sind das sicherste Arzneimittel, das heute produziert wird. Sie haben Millionen von Bürgern geschützt und es ermöglicht, dass viele Infektionskrankheiten heute unter Kontrolle sind. Allein in der westlichen Welt haben die Massenimpfungen den Tod von 500 Millionen Menschen verhindert – das entspricht etwas weniger als der Bevölkerungszahl aller 28 EU-Staaten. Im Jahrzehnt zwischen 2011 und 2020 verhinderten und werden die Impfungen den Tod von 25 Millionen Menschen verhindern. Wenn die Lebenserwattung seit 1900 von 47 auf 85 Jahre gestiegen ist, so verdanken wir das unserem Sieg gegen diese Krankheiten, der vor allem durch bessere hygienische Zustände und der Nutzung von Impfstoffen und Anibiotika erreicht werden konnte.

Die Impfgegner werfen den Befürwortern vor, sich das Gesetz von den Pharmahäusern diktieren zu lassen, dei auf diese Weise enorme Gewinne einfahren. Wie viel Wahrheit steckt in dieser Behauptung?

Keine. Man braucht sich nur die Daten der Pharamagentur AIFA zu den Kosten der Impfstoffe für unser nationales Gesunheitssystem anzusehen. Die Zahlen stammen aus einem Bericht der Beobachtungsstelle von 2015. Die AIFA schlussfolgert daraus, dass im Jahr 2015 die nationalen Ausgaben für Impfstoffe bei 1,4 Prozent der Gesamtausgaben des Sanitätsbetriebs für alle Arzneimittel lag. Die Brutto-Pro-Kopf-Ausgaben lagen bei 5,23 Euro je Bürger, das entspricht in etwa fünf Kaffees im Jahr für jeden italienischen Staatsbürger. Auch im europäischen Vergleich der sechs größten Länder gibt keiner der Staaten durchschnittlich mehr als 0,5 Prozent des Sanitätsbudgets für Impfstoffe aus. Viele multinationale Pharmabetriebe verlassen den Sektor, weil er wenig Profit generiert. Heute produzieren allein fünf große Pharamhäuser den Großteil der Impfstoffe, während es 1980 noch 17 und 1967 noch 26 Betriebe waren. Wenn man sich hier die Rechnung macht, kann man sagen, dass die öffentliche Gesundheit viel mehr gewinnt als die multinationalen Pharmabetriebe.

Interview: Matthias Kofler

Elena Cattaneo, Jahrgang 1962, ist eine italienische Pharmakologin und seit 2013 Senatorin auf Lebenszeit. Sie lehrte unter anderem am Massachusetts Institute of Technology in Boston und an der Universität Mailand. Cattaneo ist Direktorin des Stem Cell Biology and Pharmacology of Neurodegenerative Disease in Mailand, das mit 15 weiteren Laboren am europäischen Projekt NeuroStemCell zur Stammzellenforschung teilnimmt, das sie koordiniert. In ihren Forschungen beschäftigt sie sich insbesondere mit Chorea Huntington. Die Senatorin gehört der Autonomiefraktion im Senat an und hielt dort auch die Rede zum Impfgesetz.

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