Stechende Schmerzen
Es wird und wird nicht besser: Auch 2016 impften immer weniger Südtiroler Eltern ihre Kleinkinder. Lässt sich der besorgniserregende Trend überhaupt noch umkehren?
von Anton Rainer
Mit richtigem Marketing kennt sich Thomas Schael aus. Als der Generaldirektor im Sanitätsbetrieb vor rund zwei Wochen vor die Presse trat, um die aktuellen Daten zur Grippeschutzimpfung zu präsentieren, wusste er genau, welche Zahlen ihn besonders gut aussehen lassen. „Es zeigt sich, auch nach dieser Saison, dass eine Vorsorgekampagne durchaus wirkt“, freute sich Schael – und verwies stolz auf eine Erhöhung der weiterhin niedrigen Grippe-Impfraten um immerhin 0,7 Prozentpunkte. Was der Generaldirektor verschwieg: Beinahe alle anderen Viren haben es in Südtirol seit vergangenem Jahr deutlich leichter.
Tatsächlich konnte 2016 nur in drei von zwölf Impfungen, die der Sanitätsbetrieb regelmäßig statistisch aufarbeitet, eine Verbesserung festgestellt werden – der Rest der Durchimpfungsraten stürzte teils in bedenklichem Ausmaß ab. Diphterie etwa, gegen die bereits 2014 nur 88,4 Prozent der Südtiroler Kinder geschützt wurden, ist eine von vier Krankheiten, für die eine Pflichtimpfung vorgesehen ist. Um das Virus langfristig ausrotten zu können, empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation eine Deckung von mindestens 95 Prozent. In Südtirol ist man von diesem Ziel weit entfernt: Zwei Jahre später sank die Impfrate auf nur mehr 85,3 Prozent. Die Auswirkungen der trockenen Statistik: Allein im letzten Jahr verzeichnete man im Landeskrankenhaus Bozen zwei Fälle von Diphterie-Infektionen.
Die Zahlen sind „besorgniserregend“, findet Dagmar Regele. Die Direktorin der Abteilung Gesundheitsvorsorge beobachtet mittlerweile seit Jahren einen „europaweiten Trend, der im Sinken begriffen ist.“ Drei Ausnahmen betreffen die Grippe-Impfung, für die der Sanitätsbetrieb im vergangenen Oktober eine 40.000 Euro teure Werbekampagne gestartet hatte, die Mengingokokken-Impfung, die vor allem aufgrund der Medienberichte über Gehirnhautentzündungen verstärkt nachgefragt wurde, sowie den Schutz gegen die Windpocken. Der Rest der Durchimpfungsraten sank 2016 um bis zu drei Prozentpunkte. „Unser Argument für die niedrigen Impfraten in Südtirol war immer auch der Einfluss der deutschen Kultur“, erklärt Dagmar Regele, „im deutschen Sprachraum war die Impffreudigkeit stets geringer.“ Das könne man mittlerweile nicht mehr stehen lassen: Die Masern-Impfrate etwa beträgt in Österreich derzeit 92 Prozent. Damit ist man von der WHO-Vorgabe zwar noch immer weit entfernt, besser als in Italien und Südtirol sind die Zahlen aber allemal. Woran kann es dann liegen?
„Erstens ist das Organisationsmodell zu überdenken“, erklärt die Fachärztin für Hygiene. Die zunehmende Komplexität des Impfangebots überfordere nicht nur die Eltern von Kleinkindern, auch den zuständigen Medizinern mache die Zusatzarbeit zu schaffen. In Südtirol werden die Sprengelärzte mit den Impfungen betreut, teils in der eigenen hausärztlichen Praxis. „Dort aber sind sie verständlicherweise bereits mit der Behandlung erwachsener oft chronisch kranker Patienten ausgelastet“, sagt Dagmar Regele. Die Lösung: „Die Impfzentren der Dienste für Hygiene müssen ausgebaut und verstärkt werden. Wir haben gute Erfahrungen mit der Zentralisierung am Sprengelsitz oder am Sprengelstützpunkt gemacht, es gibt auch konkrete Bestrebungen, dies voranzutreiben.“
Mit der Zentralisierung allein sei es jedoch nicht getan: Auch das Gesundheitspersonal selbst müsse über die Wichtigkeit von Impfungen besser aufgeklärt werden, so Regele: „Ich als Fachärztin für Hygiene würde es mir beispielsweise nie erlauben, bei einer Frage zur Neurologie oder Kardiologie das Wort zu ergreifen, bei Impfungen aber halten sich sehr viele Leute für kompetent, eine Meinung zu äußern – obwohl sie oft nicht ausreichend wissenschaftlich informiert sind.“ Ob sich der langjährige Trend dadurch noch umkehren lässt? Zumindest scheint man sich beim Sanitätsbetrieb auch über härtere Sanktionen Gedanken zu machen – etwa eine in Italien bereits hitzig debattierte Verweigerung des Schulbesuchs bei Nicht-Impfung. „Eine harte Maßnahme“, findet die Hygiene-Expertin, aber: „In vielen anderen Ländern wird das schon angewandt. Ein Südtiroler Schüler, der ein Auslandsjahr in den USA machen will, muss auch geimpft sein.“ Hierzulande waren derartige Sanktionen abgesehen von Geldstrafen bisher tabu. Setzt sich die derzeitige Entwicklung ungebremst fort, könnte sich das bald ändern.
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