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„Ein dünner Lebensfaden“

pychaDer Suizid von Johann Paul Oberkofler wirft eine ethisch brisante Frage auf: Wie viel Mitleid darf man für Täter haben? Das Interview mit Psychiatrie-Primar Roger Pycha.

TAGESZEITUNG Online: Herr Primar, wie haben Sie auf die Nachricht vom Tod Johann Paul Oberkoflers reagiert?

Roger Pycha: Sehr betroffen. Sehr erschüttert. Am 27. November 2012 hat Oberkofler im Affekt versucht, seine Frau zu ermorden. Vielleicht war die Tat ja auch geplant, ich weiß es nicht. Am 28. November 2016 hat er sich das Leben genommen. Sein Tod scheint ein Jahrtags-Ereignis zu sein.

Sie hatten von Amts wegen mit Oberkofler zu tun?

Ja, ich bin mit ihm im September 2014 in Kontakt gekommen. Ich kann Ihnen keine Einzelheiten nennen, aber ich habe ihn suizidal erlebt. Mir kam vor, dass der Mann in Gefahr ist.

Welchen Eindruck hatten Sie von ihm als Person?

Sein großer Wunsch war, seine Lage insofern zu verbessern, als dass er wieder einen Kontakt zu seinen Kindern aufbauen kann. Außerdem war er psychiatrisch behandlungsbedürftig, so dass ich vorgeschlagen habe, ihn im Zentrum in Bruneck zu betreuen …

Was zu Problemen geführt hat.

Richtig. Dieses Vorhaben ist gescheitert, weil auch meine Vorgesetzten ein Veto eingelegt hatten. Sie führten ins Feld, dass die soziale Belastung für die Familienangehörigen zu groß sei, wenn Oberkofler nach Bruneck, also so nahe an seinen ehemaligen Wohnort, kommt.

Die Angehörigen wollten keinen Kontakt?

Nein.

Hat Oberkofler sehr unter dem Geschehenen gelitten?

Mir kam er als Mensch vor, der an einer schweren Schuld leidet, die kaum zu sühnen ist. Jetzt hat er offenbar diese Lösung gewählt. Tragisch, denn jetzt sind die Kinder ohne Mutter und ohne Vater.

Es ist müßig, im Nachhinein zu spekulieren. Aber trotzdem: Hätte man den Suizid verhindern können?

Im Nachhinein ist man immer schlauer, an der Realität kann man aber nicht mehr rütteln. Oberkofler hat die Freiheit gehabt, eineinhalb Jahre in einer Einrichtung zu leben, wo er relativ frei leben, sich sinnvoll beschäftigen und Gemeinschaft erleben konnte. Die Nachricht vom Kassationsurteil hat ihn wahrscheinlich zur Tat gebracht.

Die Angst, wieder ins Gefängnis zu kommen?

Ich denke schon. Und die Angst, es bis ans Lebensende nicht mehr verlassen zu können. Zunächst hatte Oberkofler eine Besserung erfahren. Er hatte die Hoffnung, irgendwann dorthin zurückkehren zu können, wo er das Schlimmste getan hat, um irgendetwas gutzumachen. Mit dem Urteil der Kassation ist der dünne Hoffnungsfaden gerissen.

Sie gehen davon aus, dass Oberkofler im Affekt gehandelt hat. Wie dürfte es ihm ergangen sein, als er die Dimension seiner Tat realisiert hat?

Ich bin überzeugt, dass er zu dem Zeitpunkt gespürt hat, dass fast nur sein Tod das Ganze sühnen kann. Es war eine Tragödie altgriechischen Ausmaßes.

Was lernen wir, was lernt die Gesellschaft aus diesem Fall?

Ich weiß nicht, wie viel Mitleid man mit Tätern entwickeln darf. Dahinter steht ein riesiges ethisches Fragezeichen. Ich war vor zwei Jahren auf seiner Seite, weil ich sein Leben in Gefahr sah. Meine Aufgabe als Arzt ist es, Leben zu erhalten. Von außen betrachtet, verstehe ich aber auch die Gegenposition. Er hat Leben ausgelöscht. Einige meinen, damit habe er auch sein eigenes Leben verwirkt. Und ich kann auch verstehen, wenn Menschen jetzt sagen: Aus Gerechtigkeitsgründen ist es jetzt besser so. Jetzt sind die Rechnungen beglichen.

Sie sehen Parallelen zu anderen Chronikfällen?

Ja, zum Fall Werner Unterthiner …

… der Bankbeamte, der 1996 seine Frau und die zwei Kinder ermordet …

… und sich dann selbst erhängt hat. Es gibt bestimmte Parallelen. Es ist etwas Unvorstellbares geschehen, und sobald der Täter aus dem Alptraum erwacht, reagiert er. Ich denke, Johann Paul Oberkofler hat an einem sehr dünnen Lebensfaden gehangen.

Wie wird es den Kindern gehen?

Vielleicht ist es für die Kinder jetzt sogar leichter.

Interview: Artur Oberhofer

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