„Frauen nicht kriminalisieren“
Katholische Priester dürfen künftig Frauen von der „Sünde der Abtreibung“ lossprechen. Eine Gratwanderung zwischen Barmherzigkeit und dem Verdunkeln der kirchlichen Lehren?
TAGESZEITUNG Online: Herr Lintner, die Abtreibung bleibt für die katholische Kirche und auch für Papst Franziskus eine der schwersten Sünden überhaupt. Doch wer Vergebung sucht, soll sie nun leichter bekommen.
Martin M. Lintner (Moraltheologe): Papst Franziskus macht mit diesem Schritt noch einmal deutlich, dass Abtreibung immer ein Unrecht gegenüber einem ungeborenen Menschen darstellt. Mittlerweile ist es häufig so, dass dieses Unrecht gegenüber dem ungeborenen Leben in unserer Gesellschaft nicht mehr wahrgenommen wird und die Abtreibung zum Teil sogar als ein Recht eingefordert wird. Nach dem Kirchenrecht zieht eine Abtreibung deshalb eine der schärfsten Strafen nach sich – die Exkommunikation für alle Beteiligten. Die Lossprechung von dieser Sünde und die Lösung der Strafe ist kirchenrechtlich den Bischöfen vorbehalten. Viele Bischofskonferenzen, darunter die italienische, haben diese Vollmacht schon seit längerem den Beichtpriestern weitergegeben. Dies ist allerdings nicht überall auf der Welt so. Im Jubiläumsjahr hat der Papst deshalb bestimmt, dass diese Vollmacht in allen Diözesen umgesetzt werden kann – und nun wurde diese Vollmacht verlängert.
Der Papst zeigt Verständnis für Frauen in schwierigen Situationen.
In vielen Fällen ist es tatsächlich so, dass die betroffenen Frauen Opfer von sexueller Nötigung oder Gewalt, aber auch von männlicher Sorglosigkeit sind, da viele Männer die Verhütungsfrage den Frauen überlassen. Man muss auch sehen, dass viele Frauen zu einer Abtreibung gedrängt werden, obwohl sie sich selbst nicht dafür entscheiden würden, etwa von ihrer Familie oder ihrem Partner. Die Verantwortung kann nie allein den Frauen zugeschoben werden. Es gibt auch Notsituationen, wo Betroffene keinen anderen Ausweg sehen.
Wie glauben Sie wird diese Entscheidung bei den Bürgern ankommen?
Ich kann nicht beurteilen, wie die Erwartungshaltung war, ich weiß nicht, wie intensiv und bewusst diese Entscheidung des Papstes beim ersten Mal aufgenommen wurde. Ich persönlich hoffe auf ein Zweifaches: Erstens, dass durch diese Entscheidung des Papstes vielen Menschen wieder bewusster wird, dass es bei einer Abtreibung immer auch um ein menschliches Leben geht, das getötet wird, und dass sich unsere Gesellschaft mit den Abtreibungszahlen nicht einfach abfinden darf. Jede Abtreibung ist eine zu viel. Wir müssen alles tun, um dieses Übel zu überwinden bzw. zu verhindern. Wir dürfen dies aber nicht tun, indem wir betroffene Frauen kriminalisieren.
Werten Sie diese Entscheidung als Schritt, dass die Kirche offener wird und auf die Probleme der Menschen zugeht?
Ich würde es so deuten, dass sich der Papst der Komplexität der Lebenssituationen der Menschen bewusst ist und der Kirche den Auftrag gibt, diese Komplexität wahrzunehmen – nicht über Menschen zu urteilen, ohne sie vorher wirklich zu verstehen. Wenn man in diesem Fall die Hürden für die Vergebung herabsetzt, bedeutet das nicht, dass man die Abtreibung verharmlost, sondern dass man den Betroffenen entgegenkommen möchte, besonders jenen, die nach einer Abtreibung leiden.
Machen den Papst derartige Schritte beim Volk beliebter und bei konservativen Kirchenvertretern unbeliebter?
In dieser Spannung steht er sicher mittendrin – einigen geht er zu weit, weil sie Angst haben, dass damit die reine Lehre der katholischen Kirche verdunkelt würde. Der Papst hat allerdings bereits mehrmals sehr deutlich erklärt, dass es nicht nur darum gehen kann, reine Lehren zu verkünden, sondern darum, den Menschen gerecht zu werden und ihnen zu helfen, inmitten ihrer oft komplexen und schwierigen Lebenswirklichkeiten, so gut es ihnen möglich ist, die Werte des Evangeliums zu leben.
Er verkündet ja nicht nur, sondern setzt auch klare Zeichen…
Genau. Im August hat er zum Beispiel ein Heim für ehemalige Zwangsprostituierte besucht – eine für ihn sehr beeindruckende Begegnung, wie er mehrmals erklärte. Er war zutiefst von den Schicksalen dieser Frauen beeindruckt. Er versucht Menschen zu bewegen, sie zu verstehen und ihnen nahe zu sein.
Was wird diese Entscheidung bewirken?
Ich hoffe, dass dieser Schritt bewirkt, dass man wieder neu über dieses Thema auf gesellschaftlicher Ebene diskutiert: Wie kann man Abtreibung nach Möglichkeit verhindern? Keine Frau wird schwanger, um eine Abtreibung durchführen zu lassen. Und es geht darum, für alle, die in irgendeiner Form an einer Abtreibung mitgewirkt haben, den Weg der Versöhnung zu finden. Viele Frauen empfinden dieses Ereignis als Wunde in ihrem Leben.
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