Hungernde Jugend
Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden unter Essstörungen. Primar Markus Markart über immer jüngere Betroffene, die Rolle der Eltern und die hohe Rückfallquote.
Tageszeitung: Herr Markart, in Südtirol erkranken immer mehr Jugendliche an Essstörungen. Warum werden die Betroffenen immer jünger?
Markus Markart (Leiter des landesweiten Referenzzentrums für Essstörungen im Kindes- und Jugendalter): Warum die Betroffenen immer jünger werden lässt sich nicht so einfach sagen – aber wir stellen fest, dass immer jüngere Mädchen mit Essstörungen zu uns kommen. Die Ursachen für diese Störungen können sehr vielseitig sein: Sicher spielen das ständig präsente Schönheitsideal und die veränderte Mediennutzung eine Rolle, aber auch genetische Komponenten können als Grund herangezogen werden.
Könnten auch die Anforderungen an Jugendliche zu einem zu hohen Leistungsdruck werden, der sich in einer Essstörung widerspiegelt?
Die Rückfälle häufen sich in der Zeit, wenn die Schule wieder losgeht. Der schulische Druck steigt und muss irgendwie verarbeitet werden. Viele Betroffene versuchen ihn mit der Kontrolle des Essens zu bewältigen.
Es gibt auch Fälle von Kindern, die unter Essstörungen leiden. Welche Ursachen hat die Störung in einem derart jungen Alter?
Der Fall eines siebenjährigen Mädchens war wirklich eine Ausnahme im Behandlungsbereich Magersucht. Es kommt aber auch schon früher zu Essstörungen, die aufgrund von Konflikten auf der Ebene des Essens ausgetragen werden. Konflikte zwischen Kindern und Eltern, die in Essstörungen übergehen, können sich oft ziemlich festfahren, weil Kinder mit dem Verweigern von Essen die größte Waffe auspacken. Diese frühkindlichen Essstörungen müssen aber nicht immer etwas mit Magersucht zu tun haben.
Manchmal sprechen Eltern von „Phasen“. Werden die Symptome vielfach falsch gedeutet?
Das kommt sehr häufig vor. Oft kommt es auch vor, dass Mädchen erst pummelig waren, gemobbt wurden und daher beginnen Sport zu betreiben und sich gesund zu ernähren. Das ist durchaus positiv, aber irgendwann drohen die Mädchen in eine Spirale abzurutschen und Angehörige bemerken nicht immer diese Veränderung.
Erziehen durch Vorleben. Wird beim Thema Essen zu wenig darauf geachtet Kindern ein gutes Vorbild zu sein?
Sicher hat sich diesbezüglich in den letzten Jahren viel verändert. Wenn eine Mutter selbst ständig auf Diät ist oder sich strikt nach bestimmten Vorgaben ernährt, kann es dazu führen, dass Kinder dieses Verhalten nachahmen. Früher hat man zusammen gegessen und nicht über das Essen an sich gesprochen. Das ist auch einer der ersten Punkte in den Therapiesitzungen, dass man den Familien erklärt, dass wieder gemeinsam gekocht werden muss und man gemeinsam isst.
Wie sieht es eigentlich mit Rückfällen aus?
Rund 50 Prozent der Mädchen kommen nach einer frühzeitigen Behandlung über die medizinische, ernährungstherapeutische und psychologische Betreuung wieder von einer Essstörung los. Die anderen 50 Prozent teilen sich wiederum in zwei Hälften: ein Teil dieser Mädchen kann wieder ein normales Leben führen, beschäftigt sich aber ständig mit dem Denken über Kalorien und Essen. Der andere Teil der Mädchen bleibt chronisch krank. Diese Mädchen haben immer wieder schwere Rückfälle. Man muss vielleicht dazusagen: Eine Essstörung ist im Jugendalter jene psychiatrische Erkrankung mit der höchsten Todesrate. Es handelt sich um eine sehr schwere Erkrankung, die harmlos beginnt aber sehr schwer zu therapieren ist.
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