„Trauern braucht Zeit“
Günther Rederlechner ist der Leiter der Caritas Hospizbewegung, die seit einiger Zeit in ganz Südtirol Trauercafés anbietet. Menschen, die jemanden verloren haben, können in der Gruppe den Schmerz mit anderen teilen. Haben wir die Fähigkeit zu trauern verloren?
Tageszeitung: Herr Rederlechner, welche Menschen kommen in die Trauercafés der Caritas?
Günther Rederlechner: Das Trauercafé ist ein offener Treffpunkt für trauernde Menschen. Trauer ist ja immer Ausdruck einer Verlusterfahrung. Es gibt natürlich viele Formen von Verlusten, wie zum Beispiel eine Trennung in der Partnerschaft, der Verlust einer gewohnten Umgebung oder der Verlust durch Tod eines lieben Menschen.
Das Trauercafè richtet sich vorwiegend an trauernde Menschen, die einen lieben Menschen durch Sterben und Tod verabschieden mussten, egal wie lange der Verlust zurückliegt. Auch Freunde der trauernden Menschen sind herzlich willkommen. Dadurch kann auch der Schritt ins Trauercafé auch erleichtert werden.
Sind die Trauercafés so etwas wie Selbsthilfegruppen?
Ein Trauercafé weist schon Merkmale einer Selbsthilfegruppe auf, denn Trauernde wissen oft nicht, wie sie ihre Trauer ausdrücken und leben können. Daher kann ein Austausch mit anderen trauernden Menschen da hilfreich sein. In geschützter Atmosphäre können Betroffene hier über ihre Gedanken und Gefühle sprechen und sich austauschen. Wo sich das Trauercafé nun doch von einer „klassischen“ Selbsthilfegruppe unterscheidet ist der, dass die einzelnen Treffen von ehrenamtlichen Trauerbegleitern der Caritas Hospizbewegung begleitet werden. Daher kann das Trauercafé eher mit einer begleiteten Selbsthilfegruppe verglichen werden.
Was suchen, was wollen, was finden diese Menschen in der Begegnung mit anderen Trauernden?
Trauernde fühlen sich oft von ihrer Umgebung, von der Gesellschaft ausgegrenzt und nicht verstanden. Die Folge ist dann oft Rückzug und Einsamkeit. Wir wissen, dass die Trauer nur im und durch das Erleben der Trauer selbst bewältigt werden kann. Daher brauchen Trauernde die Zeit und den Raum, diese ihre Trauer zum Ausdruck zu bringen. Der Austausch in der Gruppe kann helfen, den Schmerz über einen Verlust mit anderen zu teilen.
Wie läuft das konkret ab?
Das Trauercafé findet einmal im Monat in verschiedenen Ortschaften (Bozen, Meran, St. Martin in Passeier, Brixen, Bruneck, Lana, Mals und Kastelruth in Südtirol statt. Ein Treffen dauert in der Regel 2 Stunden. Zwei ehrenamtliche HospizbegleiterInnen bereiten zunächst den Raum vor. Die Trauernden werden begrüßt und eingeladen, Platz zu nehmen. Ziel ist es, dass sich die Trauernden zusammensetzen und ins Gespräch kommen. Die Ehrenamtlichen haben dann die Aufgaben, die Trauernde als Gäste zu „bewirten“, d.h. ihnen etwas zum Trinken anbieten. In der Mitte des Tisches befindet sich eine Kerze, welche symbolisch die zu betrauernden verstorbenen Menschen zusammen mit den Trauernden in den Mittelpunkt stellt.
Der Austausch untereinander, das Knüpfen von Beziehungen und vielleicht auch Freundschaften, das Reden über die verschiedenen Erfahrungen von Trost und Schmerz usw. sind wesentliche Bestandteile in dieser zweistündigen Begegnung. Manchmal ist es auch hilfreich, wenn sich die ehrenamtlichen HospizbegleiterInnen zu den Trauernden dazusetzten und aufmerksam mit den betroffenen Menschen in den Dialog treten.
Was sagen Sie zu jemand, dessen Partner oder Kind gestorben ist oder sich vielleicht sogar das Leben genommen hat?
Das ist eine nicht leicht zu beantwortende Frage. Denn es kommt immer auf die Situation und den Moment an. Manchmal ist es angemessen, nicht viel zu sagen. Grundsätzlich jedoch gilt es, sich am betroffenen Menschen zu orientieren. Trauernde brauchen nicht Ratschläge bzw. Anweisungen, was sie tun und lassen sollen. Sie brauchen vor allem einen aufmerksamen Gesprächspartner.
Für Trauer ist in der Leistungsgesellschaft wenig Platz und Zeit. Bewirkt der Druck von außen, dass bei den Angehörigen eine Art Entsorgungsmentalität entsteht? Es kann nicht schnell genug vorbei sein.
Trauer ist in unserer Gesellschaft nichts Produktives, es schaut kein Gewinn dabei heraus. Daher wird ihr auch wenig Zeit und Raum zugesprochen. Die Folge ist, dass die Trauer aus dem Leben verdrängt und nicht zugelassen wird. Ein weiteres Phänomen ist der Umstand, dass die Trauer auch dafür genutzt wird, um daraus ein „Geschäft“ zu machen. Die Trauer, die einst als „normal“ und „zum Leben dazugehörig“ galt, wird heute oft als Störung wahrgenommen. Sie ist etwas geworden, was nicht nur begleitet, sondern fast schon behandelt werden muss. Doch gerade durch diese Botschaft und Haltung wird den Trauernden zunehmend vermittelt, dass Trauer grundsätzlich nicht „normal“ ist und deshalb immer professionell begleitet werden muss.
Ein weiteres Phänomen des Trauerverständnisses von heute, kann unter dem Begriff Ohnmacht und Hilflosigkeit zusammengefasst werden. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Lösungen hohe Priorität haben. Doch gerade in der Begegnung mit Trauernden wird uns bewusst, dass wir keine Lösungen für das Schicksal der Trauernden haben. Es geht darum, sich an ihren Bedürfnissen zu orientieren und nicht darum, Lösungen anzubieten.
Kennen Sie auch Hinterbliebene, die überhaupt nicht trauern, vielleicht sogar froh sind über den Tod eines nahe stehenden Menschen?
Trauer äußert sich auf verschiedenen Ebenen und wird durch verschiedene körperliche, psychische, spirituelle und soziale Verhaltensreaktionen ausgedrückt. Dadurch, dass wir das sogenannten Leitgefühl der Traurigkeit bzw. das Weinen oftmals als einzige Merkmale der Trauer sehen, mag der Eindruck erscheinen, dass manche Hinterbliebene nicht trauern.
Natürlich kenne ich auch die Situation, dass manche Angehörig, die über viele Monate und Jahre einen Menschen gepflegt haben, nach dessen Tod in eine Situation kommen, in der sie sich von den energieraubenden Anstrengungen der Pflege erholen und mal „aufatmen“. Das ist legitim und darf euch nicht so bewertet werden, als ob sie nun froh über den Tod des ihnen nahe stehenden Menschen sind. Dieses „froh“ sein hat eher mit dem „ich gönne ihm/ihr die Ruhe“ zu tun. Es hat aber nichts damit zu tun, dass diese Hinterbliebenen nicht trauern. Die Trauer ist trotzdem da. Oftmals erkennt man sie von „außen“ nicht, weil sie in unterschiedlicher Form und Intensität auftritt.
Getrauert werden soll allein im Privaten, möglichst still und nicht zu lang. Wer mehr als zwei Wochen niedergeschlagen ist, gilt laut der amerikanischen psychiatrischen Vereinigung schon als seelisch krank. Ab wann macht Trauer krank?
Sie sprechen hier ein sehr aktuelles und für mich sehr bedenkliches Thema an. In der neuen Auflage des sogenannten Diagnosehandbuch für psychische Störungen der amerikanischen psychiatrischen Vereinigung (DSM) heißt es, dass zwei Wochen nach dem Verlust eines geliebten Menschen verschiedene Symptome wie Niedergeschlagenheit, Appetitverlust, Antriebslosigkeit, sozialer Rückzug, Schlafstörungen usw. als Depression diagnostiziert werden können.
Hier muss man sehr differenziert hinschauen und verstehen: was sind „normale“ Trauerreaktionen und worin erkennt man in den Reaktionen krankhafte Symptome? Dass diese nach zwei Wochen „Trauer“ diagnostizierbar sind, lasse ich mal dahingestellt bzw. kann ich mir nicht vorstellen.
Es gibt im Unterschied zu den normalen Trauerreaktionen die sogenannte „komplizierte“ Trauer. Diese ist dann gegeben, wenn die Trauer einen Menschen zu erdrücken droht. Wenn starke und anhaltende Schuldgefühle das Leben erschweren und zunehmend Schwierigkeiten auftreten, den Alltag und die Pflichten zu erfüllen, nimmt die Trauer krankmachende Züge an. Hier ist eine professionelle Unterstützung dringend erforderlich und notwendig.
Trauer ist sehr persönlich und individuell. Das Spektrum reicht von Verdrängung bis lang anhaltender Verzweiflung. Gibt es eine hilfreiche Regel, wie man richtig trauert?
Trauer ist nicht nur ein gesamtmenschlicher Ausdruck eines Verlustes, sondern sie ist gleichzeitig auch schon Bewältigung. Damit meine ich, dass es wichtig ist, Trauernde zu ermutigen, ihre Trauer auch zuzulassen. Nur im Fließen der Trauer kann auch eine Bewältigung stattfinden. Es ist auch in Ordnung, wenn ich mich als Trauernder zurückziehen möchte oder manchmal auch verschiedenen Verdrängungsmechanismen aktiviere. Auch das gehört dazu. Es kann auch ein Schutzmechanismus sein. Daher ist ein sozialer Rückzug bzw. ein Verdrängen nicht immer von vorne herein schlecht. Manchmal braucht man auch dieses Verdrängen – diesen Rückzug um Energien zu tanken, um sich dann wieder neu auf den Schmerz des Verlusts einzulassen.
Früher fanden Menschen bei Trauerfällen Halt in kirchlichen Normen, in Traditionen wie schwarzer Trauerkleidung, dem Einhalten des Trauerjahrs, in Ritualen wie dem Aufbahren eines Verstorbenen in seinem Haus. Fehlen uns diese Rituale in der Bewältigung von Trauer?
Tatsächlich ist es so, dass bestimmte Traditionen und Rituale sehr hilfreich in der Trauerarbeit sind. Leider erleben wir in der heutigen modernen Gesellschaft ein zunehmendes verschwinden solcher Rituale und Bräuche. Rituale haben generell eine Struktur, sie geben Halt und Sicherheit und helfen, bestimmte Situationen auszuhalten bzw. zu überbrücken. Daher braucht es ein „Wiederbeleben und Wiederentdecken“ solcher Rituale und Bräuche.
Gehen religiöse Menschen grundsätzlich anders mit Trauer um als Atheisten?
Ich bin schon überzeugt, dass gläubige Menschen Halt und Geborgenheit in ihrem Glauben erfahren und sich getragen wissen von Gott. Auch die Hoffnung und der Glaube auf die Auferstehung und somit auf ein Wiedersehen ist für viele ein großer Trost.
Wie definieren Sie das Ziel der Trauerbewältigung. Dass die Trauer mit der Zeit abgearbeitet und beendet werden muss oder dass man sie zum Teil des Lebens macht?
Lange Zeit war man der Meinung, dass Trauernde den Verstorbenen „loslassen“ sollen. Heute sind wir Gottseidank soweit, dass wir erkannt haben, dass es nicht um ein Loslassen geht, sondern darum, dem Verstorbenen einen eigenen Platz im Leben zu geben.
Denn ich trauere deshalb, weil ich liebe. Wie soll ich jemals etwas loslassen können, das ich liebe – das ich gerne mag. Das Weiterbestehen und die Fortführung dieser Liebe, dieser Verbindung muss das Ziel der Trauerarbeit sein. Wenn uns das bewusst ist, dann verstehen wir auch besser, wie ich dieser Trauer auch Ausdruck verleihen kann. Es braucht Trauerorte wo ich hingehen kann, zum Beispiel den Friedhof, Rituale, Ermutigung, über den Verstorbenen zu sprechen, ein gemeinsames Erinnern…all das kann helfen, den Verlust zu verarbeiten.
Letztendlich ist es sicherlich nicht das Ziel die Trauer „weg zu bekommen“. Das wird man nicht schaffen. Es geht darum, dem Verstorbenen einen Platz im Leben zuzuweisen, damit der Trauernde wieder fähig wird, in die Zukunft zu blicken und neue Lebensziele – auch ohne den verstorbenen Menschen – zu definieren und verwirklichen.
Interview: Heinrich Schwazer
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