Selbstmord in Südtirol
Roger Pycha, Primar des Psychiatrischen Dienstes im Krankenhaus Bruneck, erklärt, warum Südtirols Suizidraten nicht sinken – und Flüchtlinge besonders gefährdet sind.
Tageszeitung: Herr Pycha, Sie begegnen täglich suizidgefährdeten Personen. Wieso wählen Menschen den Freitod?
Roger Pycha: Heute unterscheidet man zwischen sogenannten Risikogruppen. Die größte Risikogruppe ist männlich: Weltweit nehmen sich fast drei- bis viermal so viele Männer als Frauen das Leben. Nur China und Indien bilden die Ausnahme. Die zweite große Risikogruppe sind ältere Menschen. Junge Leute unternehmen zwar viele Suizidversuche, diese sind aber meist nicht erfolgreich. Diese Selbstmordversuche sind ein Hilfeschrei, der sehr häufig gehört wird. Ältere Menschen, die viel ernsthafter und erfolgreicher den Tod suchen, werden hingegen kaum beachtet.
Gibt es weitere Risikogruppen?
Ja, psychisch Kranke und Suchtkranke, aber auch körperlich Schwerstkranke bilden große Risikogruppen. Der ärztlich assistierte Suizid als letzter Ausweg ist ein immer größeres Thema, zugleich aber eine gefährliche Tendenz und ethische Herausforderung. Ich persönlich finde, dass bei wirklich unerträglichen Leiden ein assistierter Suizid ein verständlicher Wunsch ist und als letzter Ausweg verfügbar sein sollte. Weitere Risikogruppen sind Menschen in Krisensituationen. Auch politisch Verfolgte und wirtschaftlich Benachteiligte sind davon nicht ausgeschlossen. Obwohl das Thema momentan kaum diskutiert wird, sind Flüchtlinge potentiell sehr stark suizidgefährdet.
Worauf lässt sich die hohe Suizidrate in Südtirol zurückführen?
Prinzipiell liegt die Suizidrate hierzulande im europäischen Durchschnitt. Sowohl jene in der Schweiz als auch jene in Österreich ist viel höher. Im italienischen Vergleich ist die Suizidrate in Südtirol aber doppelt so hoch.
Wie lässt sich diese Differenz erklären?
Darauf gibt es keine klare Antwort, weil es bisher kaum thematisiert wurde. Aus Studien geht hervor, dass die Suizidrate in Südtirol auf dem Land höher ist als in den Städten. Eine weltweit untypische Situation. Und: Die Suizidraten unterscheiden sich zwischen den Sprachgruppen. Ladiner haben das höchste Suizidrisiko, Italienischsprachige das niedrigste und die Deutschsprachigen liegen in der Mitte.
Weshalb hat die Suizidrate in den letzten 20 Jahren in Südtirol kaum abgenommen?
Als wir 2004 das Präventionsprogramm „Europäische Allianz gegen Depressionen in Südtirol“ gestartet haben, nahmen die Suizide durchaus stark ab. Im Jahr 2007 erreichten wir mit 38 Selbstmorden den bisherigen Tiefststand. Das von der EU teilfinanzierte Projekt ist aber 2008 ausgelaufen. Wir haben zwar versucht, ein Freiwilligen-Netzwerk am Leben zu halten. Das ist aber schwierig und mühsam und hat niemals dieselbe Wirkung.
Also liegt es an den fehlenden Präventionsmaßnahmen?
In keinem westlichen Land sinkt die Suizidrate, auch nicht unter den Jüngeren. Der Umgang mit lebensgefährdenden Krisen ist ein großes Zukunftsthema. Während die Schweiz zehn Prozent der Gesundheitskosten in die Psychiatrie investiert, sind es bei uns wahrscheinlich nur drei bis vier Prozent. Wir könnten aber da weiter arbeiten, wo wir aufhören mussten. Ich bin überzeugt, dass wir einiges an Prävention leisten könnten. Im Moment ringt das Gesundheitswesen mit ganz anderen Problemen. Aber ich klage niemanden an, denn das Ganze kostet viel Energie, Zeit und Geld.
Welche Präventionsmaßnahmen gibt es in Südtirol?
Studien belegen: Wo ein gutes psychiatrisches Netzwerk und Hilfswerk besteht, sinkt die Suizidrate. In Südtirol leisten die psychiatrischen Dienste gute Arbeit und haben viele Leben gerettet. Auch die anonyme Telefonseelsorge und Selbsthilfeorganisationen unterstützen die Gefährdeten. Aber auch hierzulande gibt es „Hotspots“, an denen häufiger tragische Suizide geschehen. Für diese sollte man sich Vorbeugemaßnahmen überlegen, etwa Brücken zu sichern. Wir müssen aber akzeptieren, dass wir einen Kampf kämpfen, bei dem vor allem die Verluste zählen: Jedes Opfer ist zählbar. Das heißt aber nicht, dass unsere Bemühungen umsonst sind.
In den Jahren 2009 und 2011 haben sich auffallend viele junge Menschen getötet.
Das ist ein weltweiter Trend: Ab und zu schwappt die Suizidalität wieder ins jugendliche Alter über. In Südtirol haben wir die nötigen Konsequenzen gezogen: Mit dem Aufbau der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist eine sehr valide Versorgungslage entstanden.
Auch im Jahr 2014 haben sich vergleichsweise mehr Menschen getötet. Ein Grund zur Sorge?
Natürlich sind mehr Opfer ein tragischer Umstand, aber ein Jahresausreißer heißt nicht, dass die Suizidrate ansteigt. Sehr wahrscheinlich werden die Zahlen wieder sinken. Das ist kein negativer Trend.
Interview: Franz Ferdinand Willeit
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