Kostenfaktor Patient
Unter Thomas Schael wird im Südtiroler Sanitätsbetrieb still und leise das englische Modell eingeführt: Jetzt gibt es bereits Obergrenzen für bestimmte Operationen – bald nur mehr billige Prothesen für „Alte“?
Von Artur Oberhofer
Die Devise von Thomas Schael lautet: Daten, Daten – und nochmals Daten.
Mediziner werden in Südtirol immer mehr zu Datensammlern.
„Für uns Ärzte“, sagt ein Primar im Hintergrundgespräch mit der TAGESZEITUNG, „stellen die zusätzlichen administrativen Aufgaben eine erhebliche Arbeitsverdichtung dar, da man an eine anderweitige Entlastung gar nicht denkt.“
Das Formale werde immer wichtiger, das Patientenbezogene immer unwichtiger. Es komme im Südtiroler Sanitätsbetrieb immer mehr eine neue Wertehierarchie auf, wo das ökonomisch Formale wichtiger sei als die Patientenbezogenheit.
Die Mediziner sprechen von „Dokumentationswut“, die ihnen wertvolle Zeit raube. Das Ziel dieser Politik sei, laut den Medizinern, die der Schael-Philosophie skeptisch gegenüberstehen, eine maximale ökonomische Optimierung bzw. eine maximale Kostenminimierung auf der Basis von rein administrativen Indikatoren.
Diese Verindustrialisierung der Medizin unter Thomas Schael geht inzwischen so weit, dass in Südtirol klammheimlich Obergrenzen für Operationen eingeführt werden.
Ein konkretes Beispiel:
In der Balance Score Card (BSC) unter Punkt 2, steht schwarz auf weiß, dass fortan eine Obergrenze für alle Mandeloperationen in Südtirol gilt.
Was bedeutet dies?
Sollten mehr als 261 Tonsillektomien in ganz Südtirol erfolgen, so würden alle HNO-Abteilungen gleichermaßen bestraft (in puncto Ergebniszulagen). „Eine Form moderner Sippenhaftung“, kritisiert ein Mediziner.
Der Arzt dürfe nicht mehr nach medizinischen Kriterien entscheiden, er müsse auch die Therapie mit den anderen Krankenhäusern abstimmen, denn sonst rutschen möglicherweise alle HNO-Abteilungen in die Pönale.
Die Frage ist (ähnlich wie bei der Flüchtlings-Obergrenze): Was geschieht mit dem 262. Tonsillektonomie-Patienten im Lande?
Um Vergleichbarkeit zu gewährleisten, bedient sich der Sanitätsbetrieb der DRGs (Diagnostic related Groups) – also der Fallpauschalen.
Doch auch die DRGs haben ihre Tücken
Die DRGs hätten, so sagen übereinstimmend Mediziner im Hintergrundgespräch, einen großen Nachteil. Sie würden nicht die Kostenwahrheit widerspiegeln. „Die DRGs sind in Wahrheit ein Instrument für die Generaldirektiron um Macht und Kontrolle auszuüben, die DRG’s sind nichts anderes als ein Druckmittel auf die Ärzte, den Patienten bringen die DRG’s gar nichts“, so ein Arzt, der auch ein konkretes Beispiel nachreicht: So würden traditionell kleine Eingriffe oder etwa Eingriffe im HNO- und Augenbereich gut finanziell bemessen, dagegen würden Großeingriffe bei polymorbiden Patienten relativ schlecht entlohnt. Generell schlecht entlohnt werden alle Eingriffe, die mit Prothesen in Zusammenhang stehen.
Im Lichte dieser Hintergrundinformationen aus dem Sanitätsbetrieb, die die TAGESZEITUNG in den vergangenen Wochen (trotz Maulkorberlass) zusammengetragen hat, bekommt auch der krasse Sager von Generaldirektor Thomas Schael – man solle billige Prothesen bei älteren Patienten verwenden oder man solle krebskranke Patienten frühzeitig in die Palliativmedizin einschleusen – eine neue Bedeutung.
Für Insider ist nämlich klar: Thomas Schael will in Südtirol das englische Modell imitieren. In England bekommen 75-Jährige keine hochwertige Prothese mehr. Und eine Chemotherapie wird nur genehmigt, wenn nachgewiesen wird, dass sie statistisch in und so und so vielen Fällen Erfolg hat.
Auch ist England Rekordhalter in puncto Wartezeiten.
„Das System Schael folgt nur einer Logik, und das ist die Logik der Bilanzen“, so ein Primar.
Für diese These gibt es Belege.
Ein konkretes Beispiel: Im DRG gibt es nur eine Hauptdiagnose, die zur Abrechnung, bzw zur Bemessung gebracht werden kann. So kann bei einem Patienten, der wegen einer Gallenblasenstein-Problematik operiert werden muss, nicht auch noch eine Operation zur Korrektur einer Leistenhernie während des gleichen Aufenthaltes in Rechnung gestellt werden.
Ein Arzt erklärt, was in solchen Fällen passiert: „Man entlässt den Patienten nach dem ersten Eingriff, um das volle DRG auszuschöpfen und ihn vielleicht einen Tag später aufzunehmen und wiederum zu operieren und möglichst viel verrechnen zu können.“
Dies seien die praktischen Konsequenzen des Systems Schael.
Noch ein eklatantes Beispiel: In den BSC unter Punkt 8 liest man, dass eine Gallenblasenentfernung nur mehr drei Tage Liegezeit haben darf. Die Ärzte sind entsetzt: „Dieses System nimmt Einfluss auf die ureigenste ärztliche Entscheidung, wie lange ein Patient im Krankenhaus verbleiben soll damit das bestmögliche Ergebnis erzielt werden kann.“
Zusätzlich zu den medizinischen Faktoren, wie Begleiterkrankungen, spiele nämlich auch das soziale Umfeld eine Rolle.
Ein Arzt erklärt:
„Hat ein 80-Jähriger zu Hause eine angemessene Betreuung oder ist das nicht der Fall, dann wäre es besser, wenn er noch ein oder zwei Tage im Spital bliebe. Das wäre aber bilanzschädigend und deshalb erhöht man den Druck auf die Ärzte und verbindet dies mit einer Pönale. Ein Schritt weiter hin zur Entmenschlichung der Medizin.“
Ad absurdum wird das ganze System Schael aber durch die Tatsache geführt, dass die Finanzierung im Südtiroler Sanitätssystem nicht über DRGs läuft, wie in Deutschland, sondern Südtirol hat ein steuerfinanziertes System, das die DRGs gar nicht abbildet. Es braucht die DRGs nur zur Abrechnung mit Patienten aus dem Ausland, wenn überhaupt.
Ein Arzt sagt: Letztlich sei dies alles nur administrative Kür, um Indikatoren und Vergleichbarkeit zu schaffen. Bürokratie in Reinkultur, nur fürs Management, dem Patienten bringe dies faktisch dies nichts.
Das Fazit der Mediziner:
Von oben herab werde Knappheit an Zeit und Ressourcen vorgegeben, um eine Arbeitsverdichtung zu erwirken, die das Formale und das Ökonomische priorisieren (genauso wie in England), um sukzessive das soziale ärztliche Handeln durch Verknüpfung mit dem eigenen Einkommen zu verformen. Der Erfolg ärztlicher Tätigkeit werde an der Budget- und Leistungseinsparung gemessen, nicht an der Qualität der am Patienten erbrachten Leistung.
Thomas Schael wolle die Medizin billiger machen, indem weniger angeboten wird. Er wolle die Medizin vom Spital auf das Territorium verlegen, ungeachtet dessen, dass im Territorium die nötigen Strukturen und das Personal fehlten. Personal, so vermuten Insider, das auch nicht eingestellt werde.
Zu unattraktiv, zu engstirnig und zu autoritär sei derzeit die Sanitätslandschaft. „Wir befinden uns im Würgegriff des Managements“, sagt ein Primar. Einige Mediziner gingen, andere monierten und wieder andere arrangierten sich, um schadlos zu bleiben. Auf der Strecke bleibe der Patient, der mittlerweile als Kostenfaktor bezeichnet und gesehen wird. „Die Patienten sind das schwächste Glied in der Kette ohne Lobby, ohne Fürsprecher und auch die Politik hat sich von ihm abgewandt“, so ein Mediziner.
Der Schritt vom sozialen Gesundheitswesen hin zum reinen industriellen Denken in einer Gesundheitswirtschaft sei längst vollzogen.
Ein Primar: „Der unabhängige Arzt war gestern …“
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