Das System Schael
Vertrauliche Dokumente belegen: Generaldirektor Thomas Schael will den Südtiroler Sanitätsbetrieb in einen Industriebetrieb umwandeln, Ärzte werden zu Handlangern der Verwaltung degradiert – und Patienten sind nur mehr Nummern. Ein Hintergrundbericht in zwei Folgen.
von Artur Oberhofer
Ein Oberarzt aus dem Burggrafenamt sieht düstere Wolken am Horizont aufziehen: „Der neue Generaldirektor verwandelt den Südtiroler Sanitätsbetrieb sukzessive in eine Gesundheitsindustrie, die Politik sieht tatenlos zu, und die Patienten ahnen noch nicht, was auf sie in den nächsten Jahren zukommen wird.“ Ein bekannter Mediziner aus Bozen sekundiert: „Generaldirektor Thomas Schael will in Südtirol das englische Gesundheitsmodell einführen, wir werden noch blaue Wunder erleben.“
An Südtirols Spitälern wächst der Widerstand gegen das sogenannte „System Schael“. Zwar will wegen der immer noch geltenden Maulkorberlässe keiner der Mediziner seinen Namen in der Zeitung stehen sehen, der Unmut ist aber groß.
Die TAGESZEITUNG hat in den vergangenen Wochen mit zahlreichen leitenden Ärzten und Medizinern in Südtirol gesprochen.
Das ernüchternde Ergebnis dieser Spurensuche im Schael-Kosmos:
Viele Mitarbeiter im Südtiroler Sanitätswesen sind frustriert und demotiviert. Im Betrieb dreht sich alles nur mehr um Zahlen, Benchmarking und um Statistiken. Ärzte werden zu Schreibtischtätern degradiert. Patienten sind nur mehr Nummern, über deren Therapiebedürfnisse nicht mehr allein die Mediziner, sondern die Buchhalter entscheiden.
Auf der Grundlage von vertraulichen Dokumenten kann die TAGESZEITUNG nicht nur das kollektive Unbehagen dokumentieren, sondern auch die Tatsache, dass es in Südtirol künftig wieder eine Zweiklassen-Medizin geben wird.
Bisher war das Südtiroler Sanitätsmodell durch die allgemeine Verfügbarkeit von Sanitätsleistungen gekennzeichnet. Nun aber ist der neue Generaldirektor Thomas Schael mit dem Ziel angetreten: Medizin soll in Südtirol billiger werden.
Schael will als der Manager des Paradigmenwechsels in die Geschichte eingehen.
Der neue „General“ will Bilanzen und Budgets in Ordnung bringen. Dazu bedient er sich eines ganz einfachen Prinzips, erklärt ein Primar: „Er industrialisiert die Medizin.“ Immer weniger sei von Helfen, Lindern oder Heilen die Rede, dafür immer öfter von Dienstleistungen, Benchmarking, Zahlen und Indikatoren. Der Primar und viele seiner Kollegen sind tief besorgt. Der Grund: „Dieser vom Generaldirektor eingeschlagene Weg führt weg von einer humanen, patientenzentrierten Medizin – hin zu einem Industriebetrieb.“
Worin besteht das System Schael?
Der Generaldirektor bedient sich zweier Zauberformeln: „Angemessenheit“ und „Fallpauschale“. All diese Vorgaben sind in der sogenannten Balance Score Card (BSC) festgeschrieben. Es sind dies Zielvorgaben, die aus Thomas Schaels Feder stammen und von Landesrätin Martha Stocker politisch abgesegnet wurden, ohne dass diese einschneidenden Maßnahmen zuvor öffentlich kommuniziert (oder diskutiert) worden wären.
Ein leitender Arzt erklärt, welch patientenfeindliche Philosophie sich hinter diesen BSC-Zielen verbirgt:
„Die in der BSC festgeschriebenen Ziele werden von oben nach unten hinuntergebrochen, vom Bezirksdirektor bis zum jüngsten Assistenzarzt.
Ziel und Zweck ist es, das Finanzierungsrisiko auf die Bezirksdirektoren abzuwälzen, letztere geben es direkt an die Ärzte weiter. Im Vordergrund steht nun die Wirtschaftlichkeit, die Einsparung, das schnelle Durchschleusen von Patienten.
Das bringt gute Bilanzen, da stimmen dann die Zahlen.“
Zwar sei es die ureigenste Aufgabe des Generaldirektors, ökonomisch die bestmöglichen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit eine gute und vernünftige Medizin möglich ist und damit keine Ressourcen oder Steuergelder verschwendet werden. Thomas Schael gehe aber einen ganz anderen Weg, sagen übereinstimmend leitende Mediziner.
Ein bekannter Südtiroler Oberarzt sagt im Hintergrundgespräch:
„Unter dem Vorwand, es habe bisher in Südtirol kein Kostenbewusstsein gegeben, ordnet der Generaldirektor an, dass bestimmte Leistungen einfach weniger oft erbracht werden müssen.“
Ein konkretes und krasses Beispiel: In der BSC für das Krankenhaus Bozen, unter Punkt 7, wird definiert, dass auf einer chirurgischen Station nicht mehr als 20 Prozent medizinische Diagnosen (Fallpauschalen oder DRG) aufgenommen werden dürfen, ansonsten verstößt man gegen die von „General“ Schael definierte Angemessenheit.
Das Problem dabei: Derzeit werden 30-40 Prozent internistische Diagnosen auf chirurgischen Stationen (je nach Fach) aufgenommen.
Mit anderen Worten: Ein Primar, der den Wert nicht auf 20 Prozent drücken kann, wird bestraft, indem ihm der Betrieb die Ergebniszulage kürzt – immerhin bis zu 15 Prozent des Gehaltes.
Kein Mediziner wird es offen sagen, aber klar (und nur allzu menschlich) ist: Die Gefahr bei dieser Koppelung der Ergebniszulage an die Aufnahmen besteht darin, dass ein Arzt bei seinen Entscheidungen nicht mehr einzig und allein an das Wohl des Patienten, sondern im Hinterkopf auch ein bisschen an seine eigene Ergebniszulage denkt.
Ein ärztlicher Leiter sagt:
„Es ist weltweit unumstritten, dass eine Mandelentzündung der Kompetenz einer Hals-Nasen-Ohrenabteilung untersteht, also einer chirurgischen Station, ebenso gehört eine Entzündung von Dickdarmdivertikeln auf eine Chirurgie oder eine akute Symptomatik eines Bandscheibenleidens auf eine Neurochirurgie oder Orthopädie. Es scheint auch mehr als offensichtlich, dass eine Hodenentzündung in einer Urologie und ein Lungenabszess in einer Thoraxchirurgie adäquater aufgehoben sind als in einer internistischen Abteilung.“
Es gibt noch mehr:
Unter Punkt 9 der BSC für das Bozner Spital wird vorgegeben, dass nur mehr maximal 7 Prozent aller Visiten in der Erste Hilfe-Station mit einer stationären Aufnahme enden dürfen.
Bisher waren es circa 14 Prozent gewesen.
Das bedeutet eine Halbierung der bisher erbrachten Leistungen.
Ein Mediziner mit Leitungsfunktionen aus dem Wipptal erklärt im Hintergrundgespräch mit der TAGESZEITUNG:
„Weniger Patienten und weniger stationäre Aufnahmen bedeuten: weniger Ausgaben und damit wird gespart, Verlustvermeidung wird unter Generaldirektor Schael als Angemessenheit verkauft.
Die Ökonomie hat ihre eigene Logik und ist nur dem Budget und den Bilanzen dienlich, die Medizin hätte eine ganz andere, sie ist dem hilfesuchenden Patienten verpflichtet, sie ist damit primär eine soziale Leistung.“
Die Botschaft der Mediziner ist klar:
Der Patient sei kein Kunde, der kauft, sondern eine Person, die krankheitsbedingt Hilfe sucht. „Die große Problematik des Systems Schael besteht darin, dass die Ökonomie die Oberhand über die medizinische Fachleistung erlangt“, sagt ein bekannter Südtiroler Mediziner. Plötzlich definiere die Ökonomie, was eine angemessene und damit eine gute Leistung ist und nicht mehr der Arzt. Damit nehme das Management direkt Einfluss auf die medizinische Leistungserbringung. Die Ökonomie bestimme ärztliches Handeln.
Im System Schael würden, so der Tenor der von der TAGESZEITUNG befragten Mediziner, die Ärzte zu Handlangern des ökonomischen Managements degradiert. „Wir Ärzte haben eine Loyalitätspflicht gegenüber den Patienten und müssen die unkonditionierte Freiheit der Therapieentscheidung haben, das ist leider nicht mehr der Fall.“
Im System Schael übernimmt nämlich das Management die Steuerung der ärztlichen Entscheidung. Ein Oberarzt erklärt das Problem am Beispiel der Bozner Ersten Hilfe: „Nur bei Zielerreichung, also bei einer Halbierung der stationären Aufnahme in der Ersten Hilfe Bozen wird die volle Ergebniszulage den Ärzten ausbezahlt.“
Damit stellt man die Mediziner in ein Hamsterrad:
Die Ärzte sind künftighin gezwungen, zur medizinischen Logik und Notwendigkeit auch immer die Ressourcen und die Budgetvorgaben im Hinterkopf zu behalten. „Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit sieht anders aus“, so giften die Ärzte. Schritt für Schritt würden die Ärzte erpresst – unter Androhung der eigenen finanziellen Schlechterstellung. Die angebliche ärztliche Freiheit verkomme zur Farce.
Die Leidtragenden dieser Sanitätspolitik nach dem englischen Modell werden die Patienten sein, glauben die Mediziner.
Ein Primar wagt die Prophezeiung:
„Der Patient ist ein Hilfesuchender, der darauf baut, dass er nach bestem Wissen und Gewissen und nach letztem Kenntnisstand behandelt wird. Er braucht einen unvoreingenommenen Arzt, der die Freiheit hat die individuell bestmögliche Entscheidung zu treffen. Er trifft aber nunmehr auf einen Arzt, der ihn nach einem Standard oder Algorithmus, nicht ungleich einem industriellen Fließband zu behandeln hat. Sein freier Ermessensspielraum ist durch Betriebsvorschriften eingeschränkt und die Betriebsziele sind immer schleichend präsent, wenn eine Behandlungsmaßnahme vorzunehmen ist. Der Arzt muss nach einem Standard handeln, um nicht selber in den Strudel von Kontrolle und Pönale zu gelangen. Das bedeutet einerseits Entmündigung aber andererseits Industrialisierung. Der Patient trifft nicht mehr auf einen unabhängigen, frei entscheidenden Arzt.“
Harter Tobak.
Ein bekannter Mediziner erklärt anhand eines konkreten Beispiels, was künftig in Südtirols Spitälern passieren kann:
„Der Betrieb sucht nach einem System, um Vergleichbarkeit herzustellen. Und dazu bedient sich die Generaldirektion der DRGs (Diagnosis related Groups). DRG lässt sich mit Fallpauschale erklären.
Mit Hilfe eines Verschlüsselungssystems (den sogenannten Leistungsbezeichnern) kann man Haupt- und Nebendiagnosen, Therapien aber auch begleitende Pathologien in ein vergleichbares Schema gießen. Im benachbarten Ausland dient dies den Krankenkassen, um die Spitäler für erbrachte Leistungen zu bezahlen.
Die Crux an der Sache ist, dass mit einer Pauschale individuelle Variablen in der Behandlung nicht ausreichend berücksichtigt werden.
Ein Beispiel: Eine Blinddarmoperation bei einem jungen, sonst gesunden Patienten ist vergleichsweise einfach und der Patient wird bald das Krankenhaus verlassen können. Bei einem älteren Patienten, der beispielsweise ein begleitendes Herzleiden, hohen Blutdruck und eine neurologische Erkrankung hat, wird die Genesung länger dauern. Er verbleibt länger im Spital und kostet dadurch mehr. Durch die Vergütung mittels DRG wird aber dies nicht hinreichend ausgeglichen. So kommt unweigerlich die Problematik der Rentabilität auf.
Ein Patient, in den man ,investieren’ muss, ist ein Risiko oder gar ein Negativposten in der Bilanz. Das ist ein System, das sich nicht sozial, sondern reich ökonomisch, also an Bilanzkriterien ausrichtet.“
Dieses System werde von Thomas Schael forciert und dazu braucht es Daten, Daten und nochmals Daten.
Das wiederum führt zu zusätzlichen administrativen Aufgaben auf allen Ebenen der Gesundheitsberufe – und zu Obergrenzen für Operationen.
Lesen Sie am Sonntag auf TAGESZEITUNG Online:
- Thomas Schael hat in Südtirol eine Obergrenze für Mandeloperationen eingeführt
- Bekommen in Südtirol 75-Jährige bald keine Prothesen mehr so wie dies in England bereits der Fall ist?
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