„Platschnass und unterkühlt“
Mit elf Jahren bewies Isabel Scharrer als Italienmeisterin im Schach Köpfchen, heute zeigt die gebürtige Boznerin ein Herz für Boots-Flüchtlinge. Auf der griechischen Insel Lesbos behandelt sie Ankommende.
TAGESZEITUNG: Frau Scharrer, wie war das, als Sie vor rund zwei Wochen mit der Flüchtlingshilfe begonnen haben?
Ich bin seit 1. März auf Lesbos. Anfangs hatte ich vor, im Norden der Insel zu arbeiten, meinen Plan habe ich aber geändert, weil ein Großteil der Boote seit neuestem im Süden ankommt. Hier habe ich in einer Woche drei Boote gesehen.
Wie kann man sich so eine Fahrt über das Meer vorstellen?
Die Fahrt dauert ungefähr sechs Stunden und wird auch bei viel Regen und Wind durchgeführt. Die Menschen kommen deswegen durchnässt und unterkühlt an, viele stehen unter Schock. Ein Großteil der Flüchtlinge kommt nachts an, um nicht von der Küstenwache entdeckt und zurückgebracht zu werden – deshalb sitzt man manchmal stundenlang am Lagerfeuer und wartet. Dann geht alles ganz schnell: Nachdem wir die Leute medizinisch behandelt und mit Essen und warmer Kleidung versorgt haben, kommt nach 10 bis 15 Minuten ein Bus der UNHCR und bringt sie ins Registrierungscamp.
Sie haben ein Medizinstudium hinter sich. Sind Sie für die ärztlichen Betreuung der Flüchtlinge zuständig?
Ja, ich kümmere mich um die, die am meisten Hilfe benötigen und leiste psychologischen Beistand. Meistens haben wir es mit Unterkühlungen zu tun, diese Menschen verbringen ja die ganze Nacht auf einem Schlauchboot. Frauen und Kinder befinden sich meistens in der Mitte, wo sich das meiste Wasser ansammelt – die Leute sind platschnass, gelegentlich werden sie auch bewusstlos.
Wie fühlt man sich, wenn das erste Boot auf die Küste zusteuert?
Nervös und sehr aufgeregt, gefühlt war ich der einzige Arzt vor Ort. Ich wusste ja nicht, was mich erwartet: Muss ich jemanden wiederbeleben? Sind Tote auf dem Boot? Ich habe mich erst beruhigt, als klar war, dass die meisten wohlauf sind.
Was passiert mit den Flüchtlingen, sobald sie registriert sind?
Die meisten werden im großen Camp Moria registriert – auch wenn sie von der Überfahrt noch nass und hungrig sind. Früher war Camp Moria ein Gefängnis, ungefähr so einladend sieht es heute aus. Niemand kommt hinein, ohne für eine der Flüchtlings-Organisationen zu arbeiten, die Polizei kontrolliert streng. Die „Ärzte ohne Grenzen“, die dort tätig sind, sind überfordert, man wartet teils stundenlang auf medizinische Versorgung. Pakistaner kommen hingegen in ein inoffizielles Camp, das sich gleich daneben auf einem Hügel befindet. Dort stehen große, weiße Zelte, die an ein Hippie-Camp erinnern, auch die Atmosphäre ist wesentlich fröhlicher. Hier arbeite ich.
Kaum jemand aus dem Pakistaner-Camp wird allerdings in Europa bleiben dürfen, oder?
Offiziell nein, in Wirklichkeit sind sie aber bereits seit Monaten hier, das Camp ist ihre kleine Heimat geworden. Im Internet sagt zwar man allen Flüchtlingen, dass die Grenzen geschlossen sind und sie nicht weiterkommen – aber gerade die Syrer, Afghanen und Iraker wollen nicht in Griechenland bleiben. Täglich fährt eine Fähre mit 2.000 Leuten nach Athen, viele schaffen es so ins restliche Europa.
Wissen die Flüchtlinge, was sie erwartet, wenn sie an der türkischen Küste in ein Boot steigen?
Nein, die wissen überhaupt nicht was los ist, sie stehen unter Schock, wenn sie hier ankommen. Es ist auch schon vorgekommen, dass sich das Boot aufgrund von schwachen Motoren und starkem Wind im Kreis dreht – und die Flüchtlinge immer wieder zurückgetrieben werden.
Auf einem Foto sieht man einen Berg von Schwimmwesten. Was hat es damit auf sich?
Bis vor kurzem kostete eine Überfahrt bei Schleppern noch 1.000 bis 2.000 Euro. Da es aber zu viele Todesfälle gab, sank der Preis auf 300 bis 500 Euro. Miteinbegriffen sind Schwimmwesten, die leider selten echt sind. Vor dem Ertrinken schützen sie nicht, sie saugen sich eher mit Wasser voll. Dieser Berg von Schwimmwesten im Norden von Lesbos erinnert an Ertrunkene und Überlebende der Überfahrt.
Europa schließt seine Grenzen auch mit dem Hinweis darauf, dass Menschen in Griechenland eh menschwürdig behandelt werden. Trifft das zu?
Als ich vor zwei Wochen in Athen angekommen bin, haben die Leute auf der Straße geschlafen und gefroren, es gab viel zu wenig Helfer, die noch dazu total überfordert waren. Hier auf der Insel ist es mittlerweile zwar besser organisiert, aber all diese Leute können mit Sicherheit nicht in Griechenland bleiben. Man versteht, dass die Leute weiter wollen – auch weil sie oft Familie im restlichen Europa haben. Zäune werden sie nicht aufhalten. Wer dem Tod ins Auge geschaut hat, will sein Ziel erreichen.
Wie oft gehen Sie als Flüchtlingshelferin selbst an Ihre Grenzen?
Ich habe seit der ersten Nacht eigentlich nur Nachtschichten gemacht, das ist schon eine schwierige Umstellung.
Sie schreiben auf einer Website über Ihre Erfahrungen. Der Titel: „Idealism prevails“. Was bedeutet dieser Slogan für Sie?
Idealismus bringt uns dazu, zu träumen und das Positive zu sehen. Jedem Menschen würde eine gesunde Mischung aus Idealismus und Realismus guttun.
Interview: Anton Rainer
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