„Das ist tirolfeindlich“
Der ehemalige Südtirol-Sprecher der SPÖ und Nationalratsabgeordnete Erwin Niederwieser sagt, Süd- und Nordtirol seien gar nie zusammengewachsen. Er wundert sich, dass Andreas Khol für den Zaun am Brenner ist – und befürchtet das Ende Europas.
TAGESZEITUNG Online: Herr Niederwieser, hätten Sie erwartet, dass zwischen Nord- und Südtirol noch einmal ein Zaun errichtet wird?
Erwin Niederwieser: Nein, und ich kann mich mit dieser Idee auch nicht anfreunden. Ich denke, es wurden nicht alle Möglichkeiten der Zusammenarbeit ausgeschöpft. Das, was jetzt passiert, ist das Gegenteil von Zusammenarbeit zwischen Nord- und Südtirol. Die Sache ist ganz einfach: Wir Nordtiroler schauen, dass die Flüchtlinge in Italien bzw. in Südtirol bleiben. Jeder schaut auf seine Interessen.
Von wegen Europaregion Tirol …
Es mag vielleicht etwas zynisch klingen: Aber wenn ich dieser Entwicklung etwas Positives abgewinnen kann, dann das: Man sieht, wie emotional tiefgehend die Aussagen über die Zusammenarbeit und Zusammengehörigkeit sind. Wenn es darauf ankommt, bleibt von dieser Zusammengehörigkeit nicht viel übrig.
Sie sprechen die berühmten Sonntagsreden an?
Ja. Das, was jetzt passiert, ist tirolfeindlich und rechtswidrig …
Warum rechtswidrig?
Wir haben die geltenden Regeln, wir haben das Schengen-Abkommen, es kann ja nicht jeder Staat tun, was er will. Es kann nicht jeder Staat in der EU hergehen und sagen, ich mache meine eigenen Gesetze.
Tatsache ist, die Grenzkontrollen kommen – und wohl auch der Zaun …
Ja, und ich bin schon auf die Urlaubssaison gespannt, wie es den Leuten gefällt, wenn sie am Brenner stundenlang stehen. Ich hätte diese Art von Lösung als Ultima ratio gesehen. Wenn Tirol 6.000 bis 10.000 Flüchtlinge aufnehmen müsste, dann wäre das nicht so ein Riesenproblem. Deswegen hätten man nicht gleich einen Zaun machen müssen. Die Landesregierung wäre besser beraten, wenn sie sich ihren Aufgaben widmen und schauen würde, dass sie ihre Quote erfüllt und die Flüchtlinge ordentlich unterbringt, anstatt sich um die Sicherung der Außen- bzw. Binnengrenzen zu kümmern.
Sie können die Entscheidung der österreichischen Regierung nicht nachvollziehen?
Nein, und ich hätte mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt. Mich wundert es auch, dass der Präsidentschafts-Kandidat Andreas Khol nicht mehr versucht, die Idee der Zusammengehörigkeit und der offenen Grenzen zu vertreten. Offensichtlich glauben jetzt alle, dass man so verhindern kann, dass die Menschen den Freiheitlichen zulaufen.
Sie glauben, die Entscheidung ist aus reinem Wahlkalkül gefallen?
Ich denke schon. Man sagt: Die, die Abschottung predigen, haben einen riesigen Zulauf …
In den Umfragen liegt allerdings Alexander Van der Bellen vorn …
Die Umfragen sind nicht ernst zu nehmen, weil sie noch von zu vielen Unentschlossenen ausgehen.
Vor wenigen Tagen hat Bundespräsident Heinz Fischer die Landeshauptleute der Europaregion empfangen. Fischer wirkte nicht recht glücklich über den Zaun am Brenner …
Er ist damit sicher nicht glücklich! Aber der Bundespräsident kann die Entscheidung nicht beeinflussen, dazu hat er keine Kompetenzen. Ja,gut, er könnte die Regierung entlassen (lacht), was aber dann vielleicht noch schlimmer wäre als der Zaun am Brenner. Aber Scherz beiseite: Dass nun gerade wir Tiroler, die immer so sehr für Europa argumentiert haben und für eine Lösung des Südtirol-Problems im europäischen Kontext eingetreten sind, dass wir Tiroler jetzt bei der ersten Bewährungsproben die Grenzen zumachen, das widerstrebt mir sehr.
Welche Alternativen hätte es gegeben?
Wir hätten, wenn wir nur wollten, die Kapazitäten, mit der Problemstellung fertigzuwerden, sowohl geistig als auch polizeilich. Es ist gut, dass man weiß, wer sich im Land aufhält, das gilt ja auch für Touristen. Die, die kommen, müssen erfasst werden. Aber diese Flüchtlinge hätte man im Trentino, in Südtirol und in Nordtirol erfassen können. Und wie bereits gesagt: 6.000 bis 10.000 Flüchtlinge hätte Nordtirol leicht verkraftet.
Wie erklären Sie sich, dass Bundeskanzler Werner Faymann, der ein großer Fan von Angela Merkels Willkommenskultur war, plötzlich umgeschwenkt ist?
Es ist eine Tatsache, dass die SPÖ von ihrer bisherigen Linie deutlich abgekehrt ist. Faymann wollte das lange Zeit nicht. Ich gebe zu, dass es frustrierend ist zu sehen, dass die Aufteilung der Flüchtlinge in der EU nicht funktioniert, dass der Krieg in Syrien wohl ewig dauern wird. Aber das Ganze können wir von Tirol oder von Wien aus nicht beeinflussen. Die 6.000 bis 10.000 Flüchtlinge sind kein Grund zu sagen: Wir sperren uns ein.
Mit der Kommunikation auf der Achse Wien-Bozen und Innsbruck-Bozen hat es auch nicht geklappt …
Ich wäre eigentlich schon davon ausgegangen, dass es selbstverständlich ist, dass man darüber diskutiert, dass man sagt: Passt auf, wir planen das und jenes. Man hätte gemeinsam alles anders und viel besser machen können. Aber im Grunde bestätigt dieser Umstand nur das, was ich immer gesagt habe …
Nämlich?
Die Landesteile müssen erst wieder zusammenwachsen.
Eine ernüchternde Erkenntnis …
Warum ernüchternd? Für Sie ist das neu?
Sie sagen, Nord- und Südtirol seien gar nie zusammengewachsen?
Nein, wie sind nie richtig zusammengewachsen. Wir haben die offenen Grenzen noch nicht so lange. Wir waren auf dem richtigen Weg. Die Grenzzäune bedeuten einen abrupten Stopp. Die einzige Hoffnung, die ich habe, ist, dass diese Dinge befristet geschehen. Ich hoffe nicht, dass daraus ein Dauerzustand für die nächsten 20, 30 Jahre wird. Es geht ja nicht nur um den Brenner, es geht um Kiefersfelden und um andere Grenzübergangen. Wenn es im freien Wirtschaftsraum der EU nicht mehr möglich ist, sich frei zu bewegen, werden sie die Menschen irgendwann auch fragen: Wozu brauchen wir dann die anderen EU-Regelungen, insbesondere die, die uns nicht passen?
Sie sagen, ein Dauerzustand könnte das Ende Europas bedeuten?
Ja, davon bin ich überzeugt. Dann kippt die Stimmung.
Interessant ist auch: In Sachen Grenzzaun ist Italien die Schutzmacht Südtirols. LH Kompatscher ist nach Rom gefahren, um gegen die Wiener Pläne zu protestieren …
Das verstehe ich, und das ist – wie Sie richtig sagen – neu! Es sind dies Meldungen, die ich mit größten Unbehagen mitverfolgt habe. Ich habe auch aufgrund der Kontakte zu meinen Nachfolgern und Ex-Kollegen das Gefühl, dass niemand eine Freude hat mit der Situation. Interessant ist auch: Die für die Grenzsicherung erforderlichen Sachen werden ja bereits angekauft, wenn es um die Adaptierung eines Flüchtlingsheimes ging, war nie kein Geld da.
Interview: Artur Oberhofer
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