„Bitte keine Psychose“
Wie der ehemalige Oberstaatsanwalt Cuno Tarfusser die Gefahren einschätzt, die von der Terrorzelle in seiner Heimatstadt Meran ausgegangen sind.
TAGESZEITUNG Online: Herr Tarfusser, in Ihrer Heimatstadt Meran wurde vor wenigen Tagen eine Dschihadisten-Zelle ausgehoben. Überrascht?
Cuno Tarfusser (lacht): Das habe ich schon lange vorher gewusst. Auch wenn ich hier in Den Haag bin, lebe ich nicht auf dem Mond und nicht in einer Glaskugel.
Sie waren über die Existenz dieser mutmaßlichen Terrorzelle informiert?
Ja, von Beruf wegen.
Sind Sie geschockt?
Mich schockiert gar nichts mehr. Ich bin hier in Den Haag täglich mit Greueltaten konfrontiert. Das gehört zu meinem beruflichen Alltag.
Wie gefährlich war die Südtiroler Dschihadisten-Zelle?
Ich habe natürlich meine Meinung, aber es würde zu weit gehen, wenn ich mich jetzt einmischen würde. Das steht mir nicht zu. Ich sage nur so viel: Wir haben auch in Südtirol die Kontrolle über das Territorium nicht verloren.
Dann ganz allgemein: Sind die Südtiroler Dschihadisten „vier Polli“, wie sie Merans Bürgermeister genannt hat, oder sind es gefährliche Terroristen, wie die Sondereinheit Ros sie dargestellt hat?
Man kann das Level der Gefahr, das von der Südtiroler Zelle ausgegangen ist, nicht mit der Gefahr in Paris vergleichen. Aber man sollte die Sache auch nicht unterschätzen. Man soll nicht dramatisieren, aber man soll die Sache auch nicht herunterspielen. Mehr kann und will ich nicht sagen.
Was meinen Sie konkret mit der Aussage, die Behörden in Südtirol hätten das Territorium unter Kontrolle?
Ich glaube schon, dass wir eine relative Kontrolle über das Territorium haben. Es ist wichtig, wenn präventiv gearbeitet wird. Im Sicherheitsbereich wird nicht nur das getan, was Sie in den Zeitungen lesen. Nicht jede Aktion wird an die große Glocke gehängt.
Wie erklären Sie den Umstand, dass die Behörden fünf Jahre lang gegen die Meraner Terrorzelle ermittelt haben?
Manchmal ist es gut, über einen längeren Zeitraum zu ermitteln, damit man das gesamte Umfeld besser beobachten kann.
Müssen die Menschen in Meran und/oder in Südtirol Angst haben?
Nein, die Leute brauchen keine Angst zu haben. Bitte: Nur keine Psychose!
Aber Insel der Seligen sind wir auch keine mehr …
Das waren wir nie! Das sage ich übrigens seit 25 Jahren. Wir glauben manchmal, eine Insel der Seligen oder der Nabel der Welt zu sein. Wir haben es mit einer halbwegs überschaubaren Realität zu tun. Bei uns ist es halbwegs ruhig, es geht halbwegs zivilisiert zu. Aber es ist immer gut, wenn auch kontrolliert wird.
Herr Tarfusser, Sind wir, wie Frankreichs Präsident Hollande es formuliert, im Krieg?
Nein, wir sind nicht im Krieg. Das sind überreizte Reaktionen, die nach den Ereignissen von Paris auch verständlich sind. Ich arbeite hier in Den Haag mit vielen Franzosen zusammen und kann nachempfinden, was sie nach den dramatischen Ereignissen fühlen. Aber ich sage immer: Wenn heute ein Flieger abstürzt, dann ist das in allen Zeitungen. Aber in den Zeitungen steht nicht, dass am gleichen Tag tausende und abertausende Flieger sicher gelandet sind …
Sie wollen damit sagen?
Ich will nicht beschwichtigen. Das, was in Paris passiert ist, ist dramatisch. Man muss alles tun, damit das nicht mehr passiert. Aber dramatische Dingen passieren auch in Beirut, in Bagdad. Und ich komme jetzt gerade aus einer Verhandlung, wo es um die Dinge geht, die Ihre Vorstellungskraft sprengen …
Nämlich?
Ich kann aus Sicherheitsgründen nicht viel sagen, aber es geht um Menschenrechtsverletzungen der krassesten Art, es geht um Kinder, die ihrer Kindheit beraubt werden, weil sie Soldaten sein müssen. Es geht um Frauen, um Massenvergewaltigungen. In den Jahren hier in Den Haag war ich mit den krassesten Sachen konfrontiert. Und ich habe zu schätzen gelernt, dass ich eine Familie habe, ein Haus, warmes Wasser. Das Licht geht an, wenn ich den Schalter betätige. Ich bin eigentlich jeden Tag im Urlaub.
Interview: Artur Oberhofer
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