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„Es geht nicht nur um Bombardierung“

„Es geht nicht nur um Bombardierung“

Mario Gretter, Leiter des Referats für interreligiösen Dialog, über den Umgang mit radikalen Jugendlichen, „Islam for Dummies“ – und die absurde Diskussion um gewalttätige Religionen.

TAGESZEITUNG: Herr Gretter, in Meran wurden Ende vergangener Woche mehrere mutmaßliche Dschihadisten festgenommen – und in Paris starben 132 Menschen in einer terroristischen Anschlagsserie. Wie haben Sie auf diese islamisch motivierte Gewalt reagiert?

Mario Gretter: Ich habe mir zwei Überlegungen dazu gemacht. Erstens: Jeder Anschlag ist eine Tragödie. Leider bemerke ich aber, dass es Tote erster und zweiter aber auch dritter und vierter Klasse zu geben scheint. Heute sagen Menschen in aller Welt „Je suis Paris“, aber als vor zwei Wochen mehr als 200 Menschen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen, sagte niemand „Ich bin Russland.“ Niemand sagt „Ich bin Kenia“ oder „Ich bin Nigeria“. Das macht nachdenklich.

Und Ihre zweite Überlegung?

Es ist 10 Jahre her, seit Jugendliche in Frankreich Schwierigkeiten und Missstände in gewaltsamen Aufständen signalisiert haben. Was haben wir in der Zwischenzeit getan, um Antworten auf diese Hilferufe zu finden? Nichts. Stattdessen haben wir darauf geschaut, dass das Erdöl weiter fließt. Die zentrale Frage lautet aber auch: Wie kann sich die große Mehrheit der Muslime aktivieren und sich die theologische Frage stellen, welche Elemente des Islam aus welchem Grund missverstanden werden.

Nach den Anschlägen erklärten Muslime auf der ganzen Welt, der Terror habe nichts mit Religion zu tun. Haben sie Recht?

Wenn Attentäter nachweislich eine Art „Islam for Dummies“ mit sich führen, frage ich mich, worüber wir überhaupt reden. Das sind keine wohlausgebildeten Muslime, die durch eine theologische Reifung zu einem Punkt kommen, an dem sie Anschläge verüben. Ich verstehe gut, dass einfache „Alltags-Muslime“ nun damit überfordert sind, sich von allem und jedem distanzieren zu müssen. Das wäre so, als müsste ich mich von jedem Mafia-Geschäft distanzieren, weil ich Italiener bin.

Wie erklären Sie sich dann, dass so viele Attentäter ihre Anschläge mit der islamischen Religion begründen?

Der Islam braucht eine theologische Reform, diese Aussage vertrete ich durchaus. Auf der anderen Seite gibt es die große Versuchung, Macht durch theologische Aussagen zu untermauern, nicht nur im Islam. Auch George W. Bush hat den Einmarsch in den Irak mit Gott untermauert. Bush war ein perfekter Partner der Fundamentalisten. Im Koran mag man vieles finden, in der Bibel aber auch.

Hat der interreligiöse Dialog mit dem Islam versagt?

Reden wir doch einmal davon, wie viele Christen am interreligiösen Dialog interessiert sind. Ein Beispiel: Wenn bei einem in Südtirol organisierten Treffen zwischen Juden und Katholiken 6 von 36 Personen aus der jüdischen Gemeinde kommen – wie viele Tausende Katholiken müssten dann vorbeischauen, um das Gleichgewicht zu halten? Dasselbe gilt für Meran: Keine der jetzt festgenommenen Personen wurde je in den Gebetsorten gesehen. Man sagt schnell: „Diese Leute gehören zum selben kulturellen Raum und haben denselben Wortschatz – also sind sie wahrscheinlich ‚gute Moslems’“. Das würde bedeuten, dass jeder, der „Frohe Weihnachten“ sagt, automatisch Kirchgänger und „guter Katholik“ ist. Da merkt man erst, wie absurd diese Diskussion geführt wird.

Gibt es ein Rezept, um mit radikalen Muslimen ins Gespräch zu kommen?

Wer sich selbst als radikal sieht, schließt den Dialog von vornherein aus. Das ist wie beim Autofahren: Hat sich jemand radikalisiert, ist der Unfall schon geschehen. Sinnvoller wäre es, vorher die Bremsen zu checken und den Führerschein anzuschauen.

Um Bremsen und Führerscheine kümmern sich Werkstätten und Polizei. Braucht es also mehr Kontrollen?

Wir können nicht alle Autos ständig kontrollieren – darum müssen sich auch Fahrer und Mitfahrer kümmern. Kontrollen sollten der letzte Schritt sein. Aber die Muslime haben in ihren Gemeinschaften die Pflicht, ihre theologische Methode zu überdenken und sie in die große islamische Tradition zu setzen. Viele junge Muslime sind bereit, diesen Weg zu gehen. Wir dürfen die Fehler, die in Frankreich gemacht wurden, nicht noch einmal machen. Wir können nicht Aufstände unterdrücken, aber dann keine Antworten geben.

Papst Franziskus sprach bereits vom dritten Weltkrieg. Hat nun eine Religion der anderen den Krieg erklärt?

Nein, Papst Franziskus sagt: Wir befinden uns schon in einem dritten Weltkrieg – weil weltweit ständig Kriege stattfinden. Die Tatsache, dass wir nicht direkt involviert sind, heißt noch lange nicht, dass wir nicht Teil dieser weltweiten Krise sind. Das ist kein Krieg der Religionen oder der Kulturen, es geht um Unterdrückung und immer wieder um die Kontrolle natürlicher Ressourcen. Wenn wir wollten, könnten wir ISIS sofort zerstören – aber es geht nicht nur um Bombardierung.

Worum sollte es der Politik gehen?

Echte Sicherheit funktioniert nur, wenn wir eine solidarische Gesellschaft aufbauen. Das ist der notwendige Schritt. Das gemeinsame Wohl ist in den Hintergrund geraten, dieses Netz müssen wir neu knüpfen. Wir können Kameras und Polizisten aufstellen – aber jedes einzelne Auto werden wir nie kontrollieren können.

Interview: Anton Rainer

 

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