Nirgends ein Totenschädel
Am Boden der schlichten Dinglichkeit: Die Galerie foto-forum zeigt in einer Ausstellung mit zeitgenössischen Stilleben, wie die Fotografie die klassischen Motive pflegt und darüber hinausgeht.
Von Heinrich Schwazer
Gemalte Stilleben waren die erste Fotografie. Sie blieben am Boden der schlichten Dinglichkeit, beobachteten stoisch, was ist und versuchten sich nicht an dem, was sein soll. Statt um Ideen ging es um Wahrheitseffekte, um möglichst präzise Abbildung der Wirklichkeit. Es ist nur folgerichtig, dass sich der fotografische Blick aus dem Stillleben heraus entwickelte. Die älteste von Daguerre erhaltene Aufnahme aus dem Jahr 1837 ist denn auch ein Stilleben.
Unbewegte Objekte, die einfach arrangiert werden konnten, boten sich in der Frühphase des Mediums aufgrund der sehr langen Belichtungszeiten geradezu an. Die ersten Fotografen inspirierten sich am Stil und an Motiven der niederländischen Meister, doch die Schwarz-Weiß oder Sepia-Aufnahmen waren noch weit entfernt vom Realismus der Malerei. Die Stilleben-Fotografen des frühen 20. Jahrhunderts machten sich sämtliche künstlerischen Entwicklungen wie Kubismus, Abstraktion, Pop-Art und vor allem den Surrealismus zu eigen.
Aber wie hat sich diese große ikonographische Tradition seither weiter entwickelt? Dieser Frage geht eine von Peter Weiermair kuratierte Ausstellung in der Galerie foto-forum nach. Die Ausstellung mit 40 Künstlern wurde zuerst in der Niederösterreichischen Gesellschaft für Fotografie in St. Pölten gezeigt und birgt entsprechend einen starken (nieder)-österreichischen Kern. Doch darüber hinaus sind auch Fotografen aus Deutschland, Italien und den USA vertreten.
Was zeigen sie? Zunächst: Das Spektrum der stillebentauglichen Gegenstände hat sich kaum verändert. Im Kern geht es noch immer um einen arrangierten Realismus, der jedoch stets eine paradoxale Form implizierte: Ob „Stilleben“ oder „Nature morte“ — der Begriff drückt ein widersinniges Verhältnis aus. Erst Stille bewirkt Leben, man bringt die Natur nur zum Leben, wenn man sie „stillhält“ oder gar „tötet“.
Bis auf den Totenschädel, Symbol der Vanitas, leben so gut wie alle klassischen Motive fort. Von Flaschen, über Äpfel, Birnen, Zwetschgen, toten Tieren (sehr schön Anne Mandelbaum, sowie Mathias Swoboda), Faltenwürfen, Arrangements von Gegenständen und Objekten auf Tischen, maritimen Stillleben (Stefano Scheda) bis hin zu Ansichten von Müll (Robert Zahornicky) reichen die Motive.
Formal zeichnen sie sich nach wie vor durch die bildhaft abgeschlossene Darstellung von unbewegten („stillen“) Gegenständen aus, die nach ästhetischen, der Verteilung von Licht und Schatten, und inhaltlichen Gesichtspunkten ein Tableau bilden. Die digitale Gegenwart kommt über neue mediale Strategien wie bei Christian Roeck, Martin Walde und Giovanni Castell stärker in den Fokus. Castell etwa arrangiert ein Blumenstilleben, allerdings zeigt der in München geborene Fotograf keine Fotografie, sondern ein Computergeneriertes Bild. Komplett künstlich, aber analog, ist das Tischgedeck von Robert F. Hammerstiel, der Fische, Früchte und Gemüse auf einem Tisch arrangiert. Wunderschön, aber alles aus Plastik.
Manche brechen die Gesetze des Stillebens, indem sie menschliche Körper ins Bild bringen. Im klassischen Stilleben war die Anwesenheit von Menschen streng verpönt. Das lassen sich Michael Ziegler, Fabrizio Sacchetti und Pasquale Martini nicht verbieten. Letzterer etwa fotografiert sein Gesicht unter dem Glassturz. Die ästhetisch schönste Überschreitung gelingt dem 1977 in Shanghai geborenen Shen Wei, der einen nackten Männerkörper fotografiert. In einem perfekt austarierten Spiel von Licht und Schatten, bei dem die kompositorische Repräsentation im Vordergrund steht, sieht man ein verwundetes Bein, das farblich mit Früchten kombiniert ist.
Ein wunderbares konstruktivistisches Stillleben aus farbigen Tafeln zeigt Bill Jacobson und bezaubernd ist auch das zerwühlte Bett von Elfie Semotan. In die politische Ikonographie greift der slowenische Fotografe Branko Lenart mit seinem Foto „Tito Face Look“ über.
Flügel verleiht der Gattung die Meraner Fotografin Brigitte Niedermair. Auf einer kleinformatigen Fotografie mit dem Titel „do we need all this“ ist ein prächtiger Glasdildo abgebildet, der eine Wassermelone dramatisch zu Matsch penetriert hat. Formal spielt die Fotografin mit sämtlichen Mitteln der Glasästhetik: Spiegelungen, Schlagschatten, Lichtreflexe und -brechungen, Transparenz und Fragilität. Spannender jedoch ist ein anderer Aspekt. Glas, vor allem venezianisches Glas, stand im klassischen Stilleben für ein kostbares Luxusgut. Niedermairs Sextoy steht für eine andere Kostbarkeit: Lustgewinn.
Termin: Die Ausstellung „still“in der Galerie foto-forum bleibt bis 28. November zugänglich. www.foto-forum.it
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