Mahlers „Niedergang zum Klassiker“
Seit 25 Jahren wird der Schallplattenpreis „Toblacher Komponierhäuschen“ vergeben. Bei der heurigen Verleihung plädierte der Jury-Vorsitzende Attila Csampai dafür, den Preis für eine gewisse Zeit ruhen zu lassen. Lesen Sie hier seine Erklärung.
„Meine Zeit wird kommen“ hatte Mahler noch zu Lebzeiten über das zukünftige Schicksal seiner Musik orakelt, und es dauerte ziemlich genau 50 Jahre, bis der weltweite Mahler-Hype auf Schallplatten losging und zwar zeitlich parallel mit der Entwicklung der Stereophonie, die die Durchhörbarkeit seiner komplexen Partituren erst möglich machte, und dann folgte wieder 50 Jahre lang ein geradezu explosiver Bedeutungszuwachs, und eine selbst für viele Mahler-Experten unerklärliche Popularität, die Mahler mittlerweile zum meistgespielten Symphoniker neben Beethoven vorrücken ließ, und die sich auch quantativ in einer hypertrophen Diskographie von über 3000 Aufnahmen seiner zehneinhalb Sinfonien und seiner 4 Liedzyklen niederschlug.
Nach den beiden Mahler-Gedenkjahren 2010 und 2011 hat diese überdrehte Mahler-Produktivität freilich stark nachgelassen, was auch an der allgemeinen Krise des Klassik-Marktes, liegen dürfte, die kostspielige Orchesterproduktionen kaum noch möglich macht. Der explosive Zuwachs von Mahler-Aufnahmen in den 1970er und 1980er Jahren war das entscheidende Motiv für die Gründung unseres Schallplattenpreises vor einem Vierteljahrhundert, und wir können da, glaube ich, mit einigem Stolz auf eine exzellente Ausbeute zurückblicken und zurückgreifen.
Trotzdem scheinen sich in der letzten Jahren die auch hier in Toblach schon früh geäußerten Befürchtungen, dass Mahlers „unheimliche Popularität“ und auch der sich wandelnde Zeitgeist sich irgendwann gegen den fortschrittlichen und utopischen Geist seiner Musik wenden könnten, in einer fast lautlos sich vollziehenden interpretatorischen Nivellierung allmählich zu bewahrheiten: Ulrich Schreiber, der große, vor Jahren verstorbene deutsche Musikkritiker, brachte sein Unbehagen hier in Toblach schon Anfang der 1990er Jahre in einem Vortrag auf den Punkt, als er Mahler so wörtlich den „Niedergang zum Klassiker“ attestierte. (Damals werteten viele seine Visionen als reine Schwarzmalerei.)
Vor allem scheint den heutigen Dirigenten der Enthusiasmus und das scharfe Profil der frühen Mahler-Propheten abhanden gekommen zu sein, die ja mit aller Macht Mahlers Werk vor dem Vergessen bewahren wollten, und sich damals, nach dem 2.Weltkrieg, für einen weitgehend verkannten und auch verschmähten Komponisten einsetzten. Ihr heldenhafter Einsatz für Mahler blieb nicht ohne Wirkung, und deshalb haben es heutige Dirigenten und Orchester mit einer ganz anderen Situation zu tun: Mahler ist längst ein Klassiker und seine Musik weltweit allgegenwärtig, man könnte bei einigen Werken fast schon von gewissen Verschleißerscheinungen sprechen – zudem lastet auf Ihnen das gewaltige klingende Erbe der großen Mahler-Propheten des letzten Jahrhunderts: Wo soll man bei einem solchen Riesenbestand von etwa 200-300 Aufnahmen pro Werk, in dieser bestens erkundeten und mittlerweile auch auf höchstem Perfektionsgrad musizierten Materie überhaupt noch Neues oder gar Sensationelles herausdestillieren können, das nicht schon zuvor von anderen herausgearbeitet wurde: Ist Mahlers utopisches Potenzial durch seine massenhafte Aufführung gar schon erschöpft?
Mahler Popularität hat offenbar auch den Blick auf sein Werk und unser Verhältnis zu seiner Musik, verändert. Hinzu kommt , dass es diese individuell scharf profilierten Dirigententypen, die in der 2. Hälfte des letzten Jahrhunderts so vehement für Mahler einsetzten, heute kaum mehr gibt, oder anders gesagt, dass die zunehmende Demokratisierung des Musiklebens und der allgemeine kulturelle Wandel solche rigorosen Charaktere, solche emphatischen Bekenntnismusiker wie Solti oder Klemperer, Szell oder Bernstein, Tennstedt oder Kubelik gar nicht mehr zulassen: Die Spitzenorchester spielen heute auf einem sehr viel höheren Niveau als noch vor 50 Jahren und deshalb besitzen die Dirigenten nicht mehr ihre autoritäre Macht von früher: Früher mussten Dirigenten in erster Linie das Publikum beeindrucken, heute müssen sie sich mit Spitzenmusikern freundlich arrangieren.
Das führt zwangsläufig zu einer Nivellierung der interpretatorischen Profile bei gleichzeitiger globaler Angleichung der Spielkulturen und des Klangcharakters der Orchester: Die Folge ist, dass sich die Interpretationen auf einem hohem Niveau immer mehr angleichen, und dass die eigentliche, „hinter den Noten“ stehende, kritische und utopische Botschaft der Musik hinter der perfekten Fassade immer mehr verblasst. Mahlers konfliktreiche, von größten Gegensätzen geprägte Musik verflacht zu wohltönenden Klangfassaden, die kaum noch mehr zu berühren oder zu erschüttern vermögen.
Und natürlich hat sich auch der so genannte „Zeitgeist“ in den letzten Jahrzehnten entscheidend geändert. Mahler ist längst nicht mehr der Prophet, der verkannte Held, die Ikone einer intellektuellen Avantgarde, also der durch die späten 1960er Jahre geprägten neuen kritischen Generation von Kulturschaffenden. Für sie war Mahler stets mehr war als ein verschmähter jüdischer Komponist: Er avancierte damals zu einer Pop-Ikone der 68er-Generation, und seine zerrissenen aber noch ganzheitlichen musikalischen Weltentwürfe boten dieser kritischen Generation eine neue spirituelle Ebene für die Emanzipation und das komplette Ausleben der eigenen Gefühle. Wer für Mahler war, war auf der Seite des Fortschritts, der Aufklärung, einer neuen weltumspannenden Ethik des Friedens, der Gewaltlosigkeit. Mahler wurde zu einer Ikone eines neuen Kulturverständnisses.
Diese Generation ist heute im Rentenalter, sie ist abgelöst worden durch neue Generationen, die die Schrecken der beiden Weltkriege nicht mehr unmittelbar oder aus gefühlter Nähe erlebt haben: So ist auch Mahler in der Wahrnehmung dieser jüngeren Generation der Stachel eines Revolutionärs, eines Visionärs, eines an der Welt leidenden Wahrheitssuchers, doch weitgehend abhanden gekommen. Heute ist Konformismus, nüchterne Distanz, Gelassenheit, angesagt, und diese Coolness verträgt sich kaum mit Mahlers emphatischen Botschaften. Mahler sitzt heute im Pantheon der grossen Musiker und gilt vielen als historische Grösse, nicht mehr als „Zeitgenosse der Zukunft“. Und diese unabwendbare Domestizierung zu einem Klassiker spiegelt sich am deutlichsten in der klingenden Mahler-Rezeption.
Die Ersten, die solche Entwicklungen wahrnehmen, sind natürlich die professionellen Musikkritiker, und ich verrate Ihnen kein Geheimnis, wenn ich Ihnen hier sage, dass auch wir, die Toblacher Juroren, in den letzten Jahren zunehmend Probleme hatten, aus dem zuletzt immer weiter schrumpfenden Angebot von Neuproduktionen preiswürdige Aufnahmen herauszufischen: So verzichteten wir zuletzt vor zwei Jahren auf die Vergabe eines Komponierhäuschens in dieser Kategorie, hatten aber auch bei den ausgezeichneten Neuproduktionen zunehmend Vorbehalte bezüglich des ständig sinkenden interpretatorischen Niveaus.
Wenn sich aber eine Tendenz abzeichnet und zuletzt auch unwiderruflich verfestigt, dass das Angebot an neuen Einspielungen das Niveau der alten Referenzen nicht mehr erreicht, wenn also die ganz großen Mahler-Aufnahmen allesamt 30, 40, 50 Jahre zurückliegen, dann meine ich, haben wir ein ernstes Problem. Dann müssen wir uns ernsthaft fragen, ob wir einen solchen Preis unter den gegebenen Umständen noch verantworten können und verantworten wollen.
Ich habe dieses Problem schon im letzten Jahr hier in Toblach angeschnitten, und wir sind jetzt, nach einem weiteren Jahr, der restriktiven Entwicklung, zu dem für uns alle schmerzlichen Entschluss gekommen, diesen Schallplattenpreis nach 2015 für eine gewisse Zeit ruhen zu lassen, dabei den Schallplattenmarkt aber weiterhin genau zu beobachten.
Wir wollen hier nicht definitiv Schluss machen, aber uns allen eine längere Auszeit gönnen, und damit von uns aus eine klares Zeichen unserer Besorgnis setzen. Andernfalls hätten wir unsere Wertmaßstäbe als unabhängige Musikkritiker stark absenken müssen. Die Zukunft wird zeigen, ob wir unrecht hatten.
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