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Der sanfte Kämpfer

Franz Thaler: Mir ging es darum, die Wahrheit über diese Zeit erzählen. Unwahrheiten sind schon viel zu viele erzählt worden.

Franz Thaler: Mir ging es darum, die Wahrheit über diese Zeit erzählen. Unwahrheiten sind schon viel zu viele erzählt worden.

Der Sarner Franz Thaler hat mit „Unvergessen“ das wichtigste Südtiroler Buch der Nachkriegszeit geschrieben. Mit ihm trug der ehemalige Gefangene des Konzentrationslagers Dachau entscheidend zur Auseinandersetzung mit der verdrängten NS-Zeit bei und wurde zur Symbolfigur des Südtiroler Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Vergangene Woche ist er 90 Jahre alt geworden. Ein Besuch im Altersheim Sarnthein.

Tageszeitung: Wie geht es Ihnen Herr Thaler?

Franz Thaler: Oh, mir geht´s gut. Ich bin da im Altersheim richtig gut aufgehoben. Passt alles.

Das ist die wichtigste Nachricht für ganz Südtirol zu Ihrem 90. Geburtstag.

(lacht) Ja, ja.

Was wünschen Sie sich zum Geburtstag?

Ich freue mich, dass wir alle zusammen kommen und dass ich meinen Geburtstag gemeinsam mit meiner Frau und mit meinen Kindern feiern kann.

Zuhause bleiben war nicht mehr möglich?

Schwer. Wenn etwas passieren würde, wüssten meine Frau und ich uns nicht mehr zu helfen.

Gehen Sie noch ins Dorf?

Nein, mit dem Gehen tu ich mir ein wenig hart. Ich bleibe lieber da in meinem Zimmer.

Dann fehlt den Sarnern der Ziehorgelspieler.

Spielen kann ich auch in meinem Zimmer. Halt nur für mich selber.

Musik war in Ihrem Leben immer wichtig.

Ja, ich habe mit 14 Jahren angefangen und viel gespielt. Auf Bällen, im Gasthaus, immer allein. Ich war Alleinunterhalter. Musik ist geistiges Leben und ich habe ja auch selber Stücke komponiert.

Haben Sie Ihre Kompositionen auch aufgeschrieben?

Nein. Noten brauche ich keine. Mein Vater hat immer gesagt, Noten wurden für diejenigen erfunden, die kein Gehör haben.

Wer Musik liebt, verliert auch nie den Humor, oder?

Ja, das stimmt. Es hat in meinem Leben schon Humor gebraucht. Aber ich bin ja nicht der Einzige, der in Dachau war.

Aber von den anderen weiß man, mit Ausnahme von Friedl Volgger nichts, oder wenig. Hat sich Ihr Leben nach dem Erscheinen des Buches „Unvergessen“ sehr verändert?

Eigentlich nicht.

Das Buch hat Sie mit einem Schlag berühmt gemacht.

Bekanntsein hat mich nicht interessiert. Es ging um das Buch und das war für mich eine Pflicht. Mir ging es darum, die Wahrheit über diese Zeit erzählen. Das hat es gebraucht, damit es nie wieder passiert. Unwahrheiten sind schon viel zu viele erzählt worden.

Wie hat man das Buch in Sarnthein aufgenommen?

Die ehemaligen Nazis wollten logisch nichts wissen davon. Oft hat man mir gesagt, man müsse endlich mit den alten Sachen aufhören und vergessen. Denen antworte ich immer: Ihr wisst nicht, was da alles zu vergessen und verzeihen ist. Niemand, der nicht selbst in einem Konzentrationslager war, kann sich die seelischen und körperlichen Qualen, die wir Gefangenen erlebt haben, vorstellen. Es gab aber auch viele, die über das Buch begeistert waren.

Bozen hat Sie für Ihre Wahrheitstreue zum Ehrenbürger gemacht.

Ja, ja, vom Bozner Bürgermeister bin ich ein guter Kollege. Wir haben immer eine Hetz miteinander.

In Bozen erkennt man Sie sofort, weil Sie immer die Sarner Tracht tragen.

Die habe ich mein Leben lang getragen. Eine Tracht ist einfach schön und es ist unser Gewand. Ich zeige gerne her, dass ich ein Sarner bin. Gerade in der Stadt. Ein einziges Mal in meinem Leben habe ich einen Anzug getragen. Zu Fasching. Dafür schäme ich mich heute noch.

Die Lederteile an der Tracht haben Sie selbst gestickt?

Ja, ich war ja 50 Jahre Federkielsticker. Zu verdienen war in dem Beruf nicht viel, man hat halt gerade leben können davon. Nach dem Krieg hatte sowieso niemand Geld und oft habe ich auch Arbeiten gemacht, obwohl ich wusste, dass ich nichts dafür bekomme. Ich habe nie Nein gesagt.

„Unvergessen“ ist in den 1980er Jahren erschienen. Warum haben Sie mit dem Aufschreiben Ihrer Erlebnisse so lange gewartet?

Nach dem Krieg hat sich niemand für diese Geschichten interessiert. Da ging es darum, etwas zu verdienen. Vom Krieg wollte niemand mehr etwas hören, schon gar nicht diejenigen im Dorf, die damals Nazis gewesen waren. Ich wollte eigentlich ja nur der Familie erzählen, was ich im Konzentrationslager Dachau erlebt habe. War für mich sehr mühsam, weil ich ja nie eine deutsche Schule besucht habe. Was ich aufgeschrieben habe, war voller Rechtschreibfehler, die mir andere ausbessern mussten.

Heißt das, bis in die 80er Jahre haben Sie niemand davon erzählt?

Nur wenn ich gefragt wurde. Auch meiner Familie habe ich nichts erzählt. Nicht einmal meine Frau wusste es. Ich habe das bis damals allein mit mir herumgetragen. Richtig angefangen hat es erst mit dem Aufschreiben. Erst dann konnte ich darüber reden. Meine Kinder wollten wissen, was ich erlebt habe. Das Schreiben war eine Befreiung.

Wie haben Sie geschrieben?

Ich habe stundenlang an der Werkbank geschrieben. Mit einem Bleistift und immer stehend. Oft bis weit in die Nacht hinein. Für einen Satz habe ich manchmal eine halbe Stunde gebraucht, damit er das aussagt, was ich wollte. Meine Schrift ist winzig klein, meine Kinder mussten das nachher entziffern. Sie haben mich immer angetrieben weiter zu schreiben, aber ich wollte es auch selbst. Einige Jahre habe ich dafür gebraucht.

Warum haben Sie nicht in der warmen Stube geschrieben?

Die Werkstatt ist mein Raum in Haus. In die Stube bin ich nur zum Essen und Schlafen gegangen.

Das Schreiben ist Ihnen schwer gefallen, das Zeichnen hingegen leicht.

Gezeichnet habe ich immer gerne. Ich war der Beste in der Schule, Schreiben hingegen habe ich nie derlernt und ich war ja nur in der italienischen Schule. Beim Zeichnen sind die Bilder wieder alle dagewesen.

Viele Überlebende von Konzentrationslagern fragen sich: Warum habe gerade ich überlebt?

In Dachau war mein täglicher Gedanke: Heimkommen werde ich schon nicht mehr. Und doch habe ich auch immer wieder gedacht: Vielleicht, vielleicht überlebe ich es doch. Es gab Zeiten, wo ich keine Angst mehr vor dem Tod hatte und ihn sogar herbeigewünscht habe, aber die Hoffnung auf Befreiung und Rückkehr in die Heimat ist doch immer stärker gewesen. Geholfen hat mir mein Glaube an Gott. Ich sage immer, mein Glaube hat mir das Leben gerettet.

Erinnern Sie sich noch an den Tag der Befreiung?

An den erinnere ich mich genau. Am 29. April 1945 sind die Tore aufgegangen und die amerikanischen Jeeps sind ins Lager gekommen. Man hat aber schon ein paar Tage davor gemerkt, dass die Wachen sich nicht mehr für uns Gefangene interessierten. Die Lager-SS hatte sich bereits abgesetzt, die Zurückgebliebenen boten kaum Widerstand und ergaben sich. Für mich und einige andere hätte die Befreiung fast tödlich geendet, weil die Amerikaner uns für SS-Männer hielten. Wir hatten in der SS-Baracke nach etwas Essbarmen gesucht, aber nichts gefunden. Also legten wir wenigstens unsere verlausten Hemden ab und zogen saubere SS-Hemden an. Die Amerikaner glaubten, wir gehörten auch zur SS und stellten uns mit dem Gesicht an eine Wand. Ich dachte schon, jetzt ist alles vorbei, die Befreiung war vergebens. Aber dann muss es ihnen doch seltsam vorgekommen sein, weil wir so erbärmlich abgemagert ausschauten. Unser schlechtes Ausschauen hat uns das Leben gerettet.

Was war das Schlimmste im KZ?

In Dachau habe ich mir geschworen: Wenn ich wieder nach Hause komme, verzeihe ich jedem.

In Dachau habe ich mir geschworen: Wenn ich wieder nach Hause komme, verzeihe ich jedem.

Der Hunger. Und im Winter die Kälte, weil wir schlechte Schuhe hatten oder überhaupt barfuß waren. Immer wieder habe ich erlebt, wie neben mir einer umgefallen und gestorben ist. Auf der Rückfahrt vom Außenlager Hersbruck nach Dachau ist mein damaliger bester Freund einfach aus dem fahrenden Zug geworfen worden. Und es ist kein Tag vergangen, an dem man nicht geschlagen wurde. Fußtritte sind normal gewesen. Wenn man versucht hat, den Tritten auszuweichen, gab es gleich doppelt so viel Schläge. Einen Tag ohne Angst hat es nicht gegeben.

Wo haben Sie gearbeitet?

Im Steinbruch. Ohne Handschuhe, meistens mit schlechten oder überhaupt keinen Schuhen an den Füßen. Zustande gebracht haben wir nicht viel, weil wir alle total ausgehungert waren.

Sind Sie nach der Befreiung jemals einem Ihrer Wächter wieder begegnet?

Nein, ich habe keinen wieder gesehen.

Was würde bei einer Begegnung passieren?

Als ich 20 Jahre nach der Befreiung zu einer Gedenkfeier erstmals wieder nach Dachau gekommen bin, ist alles wieder in mir hochgekommen. Hätte ich einen ehemaligen SS-Mann gesehen, wäre ich nicht imstande gewesen, einen Schritt in das Lager zu machen. Das waren brutale Leute. Ich habe nie verstanden, wie ein Mensch so brutal werden kann. Ihre Schreie höre ich heute noch. Wir sind damals bei jedem Schrei schier im Boden versunken. Bei diesem ersten Besuch musste ich die Nacht im Lager verbringen. Ich hatte die Schließungszeit verpasst und war im Lager eingesperrt. Eine Putzfrau hat mich in einer Besenkammer übernachten lassen. Geschlafen habe ich nicht viel.

Hat diese Zeit Sie in Ihren Träumen verfolgt?

Ja. Schon oft.

„Verzeihen ja, Vergessen nein“ lautet Ihr Lebensmotto. Für Nachgeborene ist schwer vorstellbar, dass man das, was Sie erlebt haben, verzeihen kann.

Ich kann verzeihen. In Dachau habe ich mir geschworen: Wenn ich wieder nach Hause komme, verzeihe ich jedem. Dieses Versprechen wollte ich halten. Als ich nach der Befreiung wieder ins Sarntal gekommen bin, bin ich dem Menschen begegnet, der mich damals verraten hat. Meinem Cousin. Zuerst wollte ich davonlaufen, aber dann habe ich gedacht: Jetzt kann mir dieser Mensch nichts mehr anhaben. Er hat mich gefragt: Franz, wie geht es? Ich habe geantwortet: Wird schon wieder gehen. Dann sagte er zu meinem Bruder: „Jetzt könnte ihr mir nicht mehr mit Vergeltung drohen.“ Damit hatte man ihm gedroht, wenn ich in Dachau gestorben wäre.

Hat er sich entschuldig?

Nein, überhaupt nicht. Hätte er das getan, wäre Verzeihen leicht gewesen. Gerne begegnet bin ich ihm aber nie mehr.

Darum geht es letztlich auch in Ihrem Buch: Um Versöhnung.

Die Kraft zur Versöhnung muss man haben, Rache und Anklage allein bringen nichts. Vergessen kann man nicht, aber verzeihen schon.

Haben Sie das Gefühl, mit Ihrem Buch die Erinnerung, das Nie-Vergessen-Dürfen in die Südtiroler eingepflanzt zu haben?

Ja, die Jugend glaubt mir. Sie glauben, was ich geschrieben habe und sie hören mir gerne zu. Ich habe Vertrauen in die Jugend.

Was sagen Sie Ihnen?

Das, was ich auch meinen Kindern immer wieder gesagt habe. Dass sie selber denken und niemandem nachlaufen sollen.

Interview: Heinrich Schwazer

 

Franz Thaler

Franz Thaler wurde 1925 in Sarnthein geboren. Bei der Option 1939 entschließt sich sein Vater gegen die Auswanderung ins Deutsche Reich und für das Dableiben in Südtirol. Der junge Franz sieht sich den Schikanen der einheimischen Nationalsozialisten und deren Mitläufer ausgesetzt. Obwohl Dableiber und somit italienischer Staatsbürger, erhält er 1944 den Befehl zum Einrücken in die Hitler-Armee, flüchtet aber in die Berge. Erst als seiner Familie die Sippenhaft droht, stellt er sich. Im Dezember 1944 kam er im Konzentrationslager Dachau an und wurde noch im selben Monat in ein Außenlager nach Hersbruck verlegt, wo er fortan im Bautrupp arbeiten musste. Am 29. April 1945 wurde das KZ von amerikanischen Truppen befreit; Franz Thaler wurde in einem französischen Gefangenenlager inhaftiert. Zwanzigjährig kommt er im August 1945 ?– seelisch und körperlich gebrochen – wieder nach Hause. Thaler arbeitete bis zu seiner Pensionierung als Federkielsticke. Seine 1989 im Raetia Verlag erschienen Erinnerungen „Unvergessen“ sind zu einem Klassiker der neuen Südtiroler Geschichtsschreibung avanciert und wurden kürzlich neu aufgelegt. 2010 wurde er von der Stadt Bozen gemeinsam mit dem NS-Gegner und –Opfer Josef Mayr Nusser zum Ehrenbürger ernannt.

Franz Thaler: Unvergessen. Ein Sarner erzählt. 5. Auflage, 192 Seiten, Edition Raetia.

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