Der rätselhafte Satz
Hannah Arendts rätselhafter Satz „Niemand hat das Recht zu gehorchen“ soll demnächst das „Mussolini-Relief“ am Gerichtsplatz historisieren. Aber wie lautet der Satz korrekt und was meinte die jüdische, deutsch-amerikanische Philosophin damit? Ein Gespräch mit dem Philosophen Andreas Oberprantacher.
TAGESZEITUNG Online: Herr Oberprantacher, Hannah Arendts rätselhafter Satz „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen“ soll demnächst das „Mussolini-Relief“ von Hans Piffrader am Gerichtsplatz historisieren. Es gibt allerdings Zweifel an der Korrektheit des Zitats. Wie lautet der Satz genau und wo hat Arendt ihn geäußert?
Andreas Oberprantacher: Hannah Arendt ist für eine Reihe philosophischer Pointen bekannt. In diesem Fall handelt es sich um einen – unvollständig zitierten – Satz aus einer Rundfunksendung mit Joachim Fest vom 9. November 1964, abgedruckt in „Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe“. Der vollständige Satz lautet: „Kein Mensch hat bei Kant das Recht zu gehorchen.“ Es handelt sich also um einen kürzeren Ausschnitt aus ihrer längeren Antwort auf Fests Frage, ob Eichmann wirklich den Kantischen Pflichtbegriff zu seiner Richtschnur gemacht habe, wie Eichmann mehrfach von sich behauptete. Wie Arendt zu verstehen gibt, handelt es sich diesbezüglich um eine „Unverschämtheit“ Eichmanns, denn Kants Moralphilosophie verlange, genau genommen, eben keinen „Gehorsam“, sondern, vielmehr, eine kritische Prüfung, ob die eigenen moralischen Prinzipien – widerspruchsfrei – allgemeines Gesetz werden können. Mit Formulierungen wie der oben genannten signalisiert Arendt also, dass der („unbedingte“) Gehorsam, auf den sich Eichmann wiederholt berief, nicht bloß kindlich, sondern im Prinzip ein Ausdruck seiner Gedanken-, ja seiner Verantwortungslosigkeit gewesen sei.
Was hat Arendt damit gemeint und taugt der Satz, um das martialische „Mussolini-Relief“ zu entschärfen?
In ihrer Auseinandersetzung mit dem „Fall“ Eichmann war es Arendt ein besonderes Anliegen, darauf aufmerksam zu machen, dass totalitäre Regime wie das nationalsozialistische in erster Linie konsequenten Gehorsam verlangten, aber nicht unbedingt eine Neigung zu, sagen wir: sadistischer Gewalt. Dementsprechend kommt Arendt auch zum Schluss, dass das nationalsozialistische im Prinzip ein bürokratisches Regime war, was für sie wiederum besagt, dass damals ein Großteil der Gewalt als Verwaltung organisiert wurde, und zwar so, dass die Frage der persönlichen Verantwortung auf unpersönliche Instanzen abgeschoben wurde. Entgegen dieser „Herrschaft des Niemand“ fordert Arendt wiederholt dazu auf, politisches Handeln und Sprechen als gewichtige Momente persönlicher Verantwortlichkeit denken zu lernen. Was das Verhältnis zwischen der Pointe Arendts und dem „Mussolini-Relief“ betrifft, würde ich nicht sagen, dass es letzten Endes auf Entschärfung ankommt. Wenn schon, dann würde ich in diesem Zusammenhang eher von einem provokanten Kontrast, ja von einer kritischen Intervention sprechen, welche uns – indirekt – mit der Frage konfrontiert, ob bzw. wie wir heute „gehorchen“, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Anders gesagt, es fällt uns leicht, vergangene Formen der organisierten „Gedankenlosigkeit“ zu verurteilen, aber eher schwer, gegenwärtige zu erkennen und zu problematisieren.
Arendt sprach von der „Banalität des Bösen“, um den Organisator der Judendeportationen Adolf Eichmann als überzeugungslosen Technokraten zu beschreiben, der sich als bloßes Werkzeug seiner Vorgesetzten stilisierte. Dafür wurde sie scharf kritisiert. Ist sie Eichmann auf den Leim gegangen?
Die Kritik, dass sich Arendt von Eichmann in die (philosophische) Irre führen habe lassen, wurde wiederholt formuliert und findet nach wie vor regen Zuspruch. Auf dem ersten Blick mag es vielleicht so scheinen, als habe Arendt Eichmann weichgezeichnet, aber wenn ihre Argumente in Eichmann in Jerusalem gründlich gelesen und ernst genommen werden, dann zeichnet sich etwas anderes ab: Das Gefährliche an Menschen wie Eichmann ist, wie Arendt wiederholt zu verstehen gibt, dass sie nicht bereit sind, sich gedanklich in die Position anderer zu versetzen. Ihre „empörende Dummheit“, so Arendt, besteht darin, dass sie sich gar nicht vorstellen wollen, was diese oder jene Handlung für andere zur Folge haben könnte, und dass sie für ihre Handlungen letzten Endes gar keine Verantwortung übernehmen. Eichmann kann durchaus perfide gewesen sein, aber seine Perfidie erreichte laut Arendt keine „dämonische“ Tiefe. In diesem Sinne spricht sie lieber von der „Banalität des Bösen“, um sich von religiösen oder philosophischen Konzeptionen des Bösen abzugrenzen, welche im Fall von Menschen wie Eichmann keinen Sinn ergeben würden bzw. sich nicht für eine Kritik der Verhältnisse eignen würden.
Ein Täter mag banal sein, das Böse ist es nicht. Warum hat Arendt Ihrer Meinung nach auf den kontroversen Begriff „Banalität“ zurückgegriffen? Steht dahinter die Schwierigkeit, das absolute Böse, das die Nazis verkörperten, zu beschreiben?
In einem Brief an Gershom Scholem vom 20. Juli 1963 erwähnt Arendt, dass sie nicht länger bereit ist, vom „radikal Bösen“ zu sprechen – so wie es etwa Kant tat. Diese Verschiebung in der Wortwahl signalisiert, dass sich Arendt bewusst von einer Tradition der philosophischen oder religiösen Auseinandersetzung mit dem Bösen (etwa als Inbegriff des Dämonischen) distanziert, um stattdessen einen Begriff zu entwickeln, welcher der Gewalt totalitärer Verhältnisse sprachlich anderes gerecht wird. Dementsprechend ist Arendt zwar bereit zu sagen, dass das „Böse“ im Kontext des nationalsozialistischen Terrors extrem gewesen sei, aber eben nicht dämonisch. Die Brutalität des banal Bösen besteht in seiner organisierten Gedanken- und Verantwortungslosigkeit. Wenn Arendt in diesem Zusammenhang den Untertitel „Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ wählt, signalisiert sie ferner, dass es ihr gar nicht daran gelegen ist, so etwas wie eine neue „Theorie des Bösen“ zu entwickeln. Vielmehr handelt es sich um einen, d.h. ihren Zeugenbericht in Erinnerung an den Eichmann-Prozess, der für sie exemplarisch war, um die nationalsozialistischen Verhältnisse als banal böse zu begreifen.
Hat Arendt unser Verständnis vom Bösen erweitert oder hat sie es selbst banalisiert?
Viel spricht dafür, dass Arendt unser Verständnis vom Bösen erweitert hat, indem sie es, das Böse, banalisierte (aber nicht bagatellisierte). Anders gesagt, Arendts „Bericht von der Banalität des Bösen“ kann als Aufforderung gelesen werden, das Bösen nicht mehr in einem religiösen oder philosophischen, sondern, vielmehr, in einem politischen Sinne zu beurteilen, und zwar als Inbegriff einer verwalteten Welt, welche das zwischenmenschliche Miteinander (und nicht nur) zu verwüsten droht.
Für Empörung sorgte Arendt mit ihren Bemerkungen über die jüdische Mitschuld am Holocaust. Sie kritisierte, dass die Juden sich durch passives Erdulden selbst schuldig gemacht hätten und die Kollaboration einiger jüdischer Räte mit ihren Mördern. Wie kam sie zu dieser Auffassung?
Diese und verwandte Passagen aus Eichmann in Jerusalem bilden tatsächlich das Zentrum der massiven Vorhaltungen, um nicht zu sagen: der Ressentiments gegen Arendt, welche u.a. zur Folge hatten, dass sie Zeit ihres Lebens in Israel als persona non grata geächtet wurde. Arendts Kritik, dass die so genannten „Judenräte“ mit Behörden des nationalsozialistischen Regimes „zusammengearbeitet“ haben (in der deutschen Übersetzung wird das Wort „Kollaboration“, welches von ihr auf Englisch verwendet wird, meist vermieden), ist jedenfalls keine, die sie selbständig formuliert hat. Sie beruft sich nämlich mit ihren scharfen Worten wiederholt auf Formulierungen von Raul Hilberg oder von Robert Pendorf, welche bereits vor ihr die Zusammenarbeit zwischen jüdischen und nationalsozialistischen Autoritäten problematisiert hatten. Schwer wiegt Arendts Kritik insofern, als sie selbst wenig dazu beigetragen hat, die Verantwortung jüdischer Autoritäten in Situationen der nationalsozialistischen Bedrohung und Besatzung nachträglich zu entlasten. Stattdessen fokussierte sie vor allem auf all die Unterlassungen jüdischer Gremien, welche zur Folge hatten, dass das Leben unzähliger Jüdinnen und Juden für das Wohl einiger anderer „geopfert“ wurde. Abgesehen davon vertrat Arendt auch im Allgemeinen die Ansicht, dass die wichtigste politische Tugend jene des persönlichen Mutes sei, selbst wenn dieser es erfordere, sein eigenes Leben zu riskieren. Und diese Tugend war für sie eine viel zu rare im Zweiten Weltkrieg, auch bei Jüdinnen und Juden.
Für die heutige Leitwissenschaft, die Neurobiologie, sind Gewalt und Mord schlicht gestörte Gehirnfunktionen. Macht die Neurologie das Böse verständlicher als die Geisteswissenschaften, Psychologie und Philosophie?
Arendt würde im Anschluss an ihre Argumentation in Vita activa vermutlich sagen, dass eine problematische wissenschaftliche Tendenz zurzeit darin besteht, den Menschen als ein Lebewesen zu begreifen, dessen Geschichte im Wesentlichen nichts anderes als die seiner (neuro-)biologischen Evolution ist. Solche wissenschaftlichen Zugriffe sind häufig reduktiv und in weiterer Folge selbst schon gewalttätig, weil sie, wie Arendt selbst schrieb, von der komplexen menschlichen Geschichte abstrahieren und an ihrer Stelle eine quasi ahistorische Evolution des menschlichen Geschlechts postulieren. Im Unterschied dazu war es Arendt stets ein Anliegen, die „menschliche Situation“ mitsamt dem variablen Hang zur Gewalt historisch ernst zu nehmen, sie als eine plural verfasste zu verstehen und gleichzeitig Chancen zu erkunden, wie für eine friedlichere Welt gesorgt werden könnte. Im Übrigen hat sich Arendt als politische Denkerin und nicht etwa als politische Philosophin begriffen, da auch die Philosophie für sie eine viel zu reduktive (und weltabgewandte) Wissenschaft war.
Interview: Heinrich Schwazer
Zur Person
Andreas Oberprantacher lehrt Philosophie, Geschichte, Europäischen Ethnologie und Komparatistik an der Universität Innsbruck und an der University of Nottingham. Sein Forschungsschwerpunkt ist Philosophie in einer globalisierten Welt. Er ist Lehrbeauftragter am Institute of International Studies an der Ramkhamhaeng University Bangkok, Thailand, Lehrbeauftragter im Peace and Conflict Studies Program des Oslo University College, Indien, und Lehrbeauftragter an der National Chung Hsing University, Taichung, Taiwan. Seit 2015 ist er assoziierter Professor am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck.
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